Hannelore Schröder
Tochter, Hausarbeiterin und Mutter in der Hand von Grossbürger-Patrokraten
Dagmar von Gersdorff,
Goethes Mutter. Eine Biographie.
Insel Taschenbuch it 2925, Frankfurt/M. 2003.
461 Seiten, Euro 12,--
Grosse, fundierte Frauenbiographien wurden von angelsächsischen
Autorinnen geschrieben:
Kathleen Barry, "Susan B.Anthony. A Biography of a Singular Feminist" (1988),
Hannah Pakula,
"An Uncommon Woman.The Empress Frederick" (1996) - Victoria, Tochter der englischen
Königin,
Carolly Erickson , "Josephine. A Life of the Empress (1998) und Antonia Fraser,
"Marie Antoinette" (2001)
sind brillante Beispiele. - Gründliches Quellenstudium, Auswerten
nicht beachteter Dokumente, umfassende historische Kenntnis der
jeweiligen Zeit, vorurteilslose Analyse, präziser Sprachgebrauch - und
menschliche Anteilnahme am Leben und Leiden ihrer Protagonistinnen sind auch
die Qualitäten, die von Gersdorffs Biographie auszeichnen. Sie ist diesen
Biographinnen ebenbürtig. - Ihre Aufzeichnung des Lebens von Goethes
Mutter gehört zu den fundiertesten, fesselndsten - und ergreifendsten,
die ich in den letzten zwei Jahrzehnten gelesen habe: Höhepunkte der
Fem-Biographie, der Aufzeichnung von Frauenleben unter den Bedingungen der
Vaterherrschaft - durch kritische Wissenschaftlerinnen. - Durch Analyse unbeachteter
Quellen widerlegt die Literaturwissenschaftlerin alte Vorurteile und bringt
viel Neues ans Licht - über diese Mutter vieler Kinder, Hausfrau einer
grossen Haus- und Gartenwirtschaft und unglückliche Ehefrau des einundzwanzig
Jahre älteren Haustyrannen Goethe: anhand seiner Haushaltbücher
und ihrer dreissig Ausgabenbücher rekonstruiert von Gersdorff den Alltag
im Haus am Hirschgraben, d. h. von der Basis der Hauswirtschaft her.
Der Jurist und Kaiserliche Rat (gekaufter Titel) Caspar Goethe lebt von Zinsen
des geerbten Kapitals und Renten aus grossem Grundbesitz, 2 700 Gulden
im Jahr (ein Professor verdient 400). Er ist vielfacher
Millionär. Die weitaus grösste Summe gibt er für sich selbst,
für seine Steckenpferde aus. Für die "Küchen-ausgaben" der
Familie und des zahlreichen Hauspersonals bewilligt er weniger als 700 Gulden,
die er wöchentlich zuteilt. Über Ausgaben für Handwerker,
den Abtritt im Hof, Arzt und Amme, für Kindersärge usf. führt
er pedantisch Buch; er notiert selbst jeden Kreuzer für den Kauf von,
Schürzen, Seife, Nachtkappen, Laken, Windeln
.Ein Mann, der die
Verhältnisse im Haus kennt, nennt ihn einen Geizkragen und Popanz. -
Elisabeth Textor (1731-1808) wird mit siebzehn Jahren von ihrem Vater, als
Bürgermeister und Gerichtsherr der mächtigste Mann der Stadt, an
den Hagestolz "von despotischer Strenge" verheiratet. Das junge Mädchen
wird nicht gefragt, von "Konsens" oder gar Liebe ist keine Rede. Sie hat Angst.
Der Privatier ohne Amt strebt vor allem nach einer Verbindung mit dem Bürgermeister,
kalkuliert jedoch auch seinen Gewinn, die Mitgift, Gebär-fähigkeit
und Arbeitskraft seiner Kindsbraut. Die Ehe bringt ihm 10 000 Gulden Mitgift
ein, Profit, über den allein er verfügt, er ist Eigentümer
und Vormund.
Die junge Frau muss vierunddreissig (!) lange Jahre unter seiner Herrschaft
sehr viel leisten und ertragen:
Wenn der Alte mit der "copulation" zufrieden ist, lässt er für "die
Gefährtin des Bettes" schon mal zwei oder drei Gulden springen: er verbucht
diese als "Geschenke" - von ihrem "eigenen" Geld! - Von ihr gibt es keine
Äusserung über die Intimität; sie musste gehorchen, sich widerspruchslos
fügen.
Ein Jahr nach der Heirat, 1749, nach drei Tagen lebensgefährlicher Quälerei
gebiert die Achtzehnjährige ein Kind, "schwarz und ohne Lebenszeichen",
das die erfahrene Hebamme durch Baden in warmem Wein wiederbelebt, Johann
Wolfgang.- Die Mutter ist nicht der Rede wert, wird in der Geburtsanzeige
überhaupt nicht erwähnt! - 1750 gebiert sie Cornelia; in zwölf
Jahren muss sie sieben Geburten durchstehen; nach der
letzten "schenkt" ihr der "Erzeuger" sage und schreibe 80 Gulden. - Fünf
ihrer Kleinen sterben im Säuglings- oder Kindesalter; Wolfgang und Cornelia
überleben, verständlich, dass die Mutter vor allem den Sohn verhätschelt,
selbst als Erwachsenen noch mit grossen Geschenken verwöhnt. Ihre einzige
Tochter, die begabte Cornelia stirbt schon mit sechsundzwanzig Jahren im zweiten
Kindbett. Wie bitter muss der Tod von sechs Kindern für die Mutter gewesen
sein. Ihre "Frohnatur" ist die Oberfläche, unter der sie ihre Leiden
verbirgt, danach fragen weder der Hausherr, noch der erwachsene Sohn.
Epidemischer Müttertod, verursacht durch die rücksichtslosen
Schwängerer - und epidemischer Kindertod der schwach geborenen Säuglinge
- wurden von den Patriarchen selbst der höchsten Stände gleichgültig
in Kauf genommen: Mütter verbluten wie Soldaten, sterben an Kindbettfieber
- und totaler Erschöpfung.
So stirbt Maximiliane Brentano jung, wie üblich zwangsverheiratet, nach
zwölf Geburten völlig erschöpft. Auch
Johann Wolfgang schwängert Christiane rücksichtslos: sie muss fünf
Kinder gebären, vier begraben - er ist meistens abwesend. - Väter
sprechen sich von jeglicher Verantwortung frei: Gottes Wille! Rücksicht
auf Ehefrauen und Schwangere, Geburtshilfe, ausgebildete Hebammen oder gar
Ärztinnen - gibt es nicht.
Das Haus, zwanzig Zimmer, Treppen, Dielen, Hof und Garten, Keller und Böden,
bewohnt von zwölf Menschen, ist ein "Betrieb von mittlerer Grösse",
für den die Hausfrau verantwortlich ist: hier werden fast alle Lebensmittel
produziert, Fleisch, Fisch, Gemüse und Obst konserviert und grosse Vorräte
gehalten.
Täglich müssen grosse Mahlzeiten für den Hausherren, oft viele
Gäste, Mutter, Kinder und Dienstleute zubereitet, das viele Geschirr,
Silber und Küchengeräte gesäubert werden. Mit spinnen, Wäsche
nähen, flicken, stricken, klöppeln werden Textilien hergestellt.
Die Hygiene in dem grossen Haus erfordert schwere Arbeiten: Wasser,
Holz und Asche schleppen, scheuern, bohnern, waschen und bügeln. Hinzukommen
Säuglings- und Krankenpflege, Armensorge und später jahrelange Altenpflege.
Vor lauter Hausfrauenarbeiten kommt die "Rätin" nicht zu ihren
Lieblingsbeschäftigungen, lesen und Klavier spielen, dennoch ist sie
eine grosse Briefschreiberin. Ihre Briefe sind "Dokumente von unvergleichlichem
literarischen, kulturellem und menschlichen Wert"; ihre "Ausdruckskraft, spontane
Mitteilungsfreude und sprachliche Virtuosität sind ungewöhnlich
und über jedes Klischee erhaben", urteilt die Wissenschaftlerin.
Erst als Witwe, mit einundfünfzig Jahren wird sie frei und selbstbewusst,
kann sie endlich ihr eigenes Leben leben, ihre Liebe zu Musik, Literatur,
Theater verwirklichen, sich ihren jungen und alten Freundinnen und Freunden
- worunter hochgestellte - widmen, die sie um ihrer selbst willen, als phantasievolle
Erzählerin, warmherzige Gastgeberin und grossmütigen Menschen verehren
und lieben. - "Mamma Goethe ist die beste und liebste Frau von der Welt",
schreibt eine junge Frau. Herzog Carl August nennt sie "eine herrliche Frau
voll
Liebe und Grösse." Seine Mutter, Anna Amalie, steht mit ihr in vertrautem
Briefwechsel, beide Mütter beschenken sich gegenseitig. Die Wertschätzung
und Menschlichkeit Fremder helfen ihr, "den Kummer der alleingelassenen Mutter"
zu ertragen: Ihr Sohn hat sie höchst selten besucht, obwohl er
ihr das Leben verdankte, die Geburt und die Rettung, als er totkrank aus Leipzig
heimkam.
Ihren Besuch in Weimar wünschte er nicht, im Alter hat er sie völlig
verlassen, sie sogar aus dem Vaterhaus gesetzt, auf dessen Verkauf er drängte,
um einen Gutsbesitz zu erwerben. Dass er alle Briefe seiner gütigen Mutter
als wertlos einschätzte und verbrannte, beweist seine Arroganz und Verachtung,
seine Unmenschlichkeit.
"
edel, hilfreich und gut" ist allein die Mutter; das privilegierte Geschlecht,
Vater und Sohn ("Dienen lerne beizeiten das Weib"), egozentrisch, rücksichtslos,
geldgierig, herrisch und verächtlich gegenüber Ehefrau und
Tochter bzw. Mutter, Schwester Cornelia und Haushälterin
Christiane - ist unmenschlich.
Dagmar von Gersdorff hat uns mit diesem wahrhaft grossen Werk ein wertvolles,
weil seltenes Geschenk gemacht: alle Mütter und Töchter sollten
es lesen - mit Dank und Anerkennung für ihre jahrelange Arbeit.
Darüberhinaus wünsche ich, dass diese Biographie Pflichtlektüre
in Schulen und Universitäten wird.
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