Hannelore Schröder
Patrokraten-Justiz: Todesstrafe für ein weibliches Opfer
Goethes Gretchen. Das Leben und Sterben der Kindsmörderin Susanna Margaretha
Brandt
Nach den Prozessakten dargestellt von Siegfried Birkner.
It 2563. Frankfurt/M u. Leipzig 1999.
149 Seiten. Euro 7,--
Am 14. Januar 1772 wird die Dienstmagd auf dem Gerichtsplatz
vor der Hauptwache in Frankfurt/M hin-gerichtet. Mit einem Schwerthieb schlägt
ihr der Sohn des Scharfrichters den Kopf ab: "die Hinrichtung glücklich
und wohlverrichtet."- Sie ist Opfer eines Vergewaltigers und der grausamen
Herrenjustiz. Diese hohen Herren weigern sich hochfahrend und böswillig,
mildernde Umstände auch nur zu erwägen. "Mein ist die Rache" und
"Auge um Auge" ist ihr Dogma. Straffreie Vergewaltigung sogar von Ehefrauen
ist die moralische und gesetzliche Norm. Der Vergewaltiger wird auch
hier nicht verfolgt: Der Gast aus Holland hatte Margarete in der drittrangigen
Herberge, wo sie die Zimmer reinigte, mit Wein und einem Betäubungsmittel
in willen- und wehrlosen Zustand versetzt und mehrfach vergewaltigt.
Sein Name steht nicht im Gästebuch - er macht sich aus dem Staub. - Die
vierundzwanzigjährige "Weibs-Person", "unbescholten", unerfahren und
völlig unwissend, versteht ihren körperlichen Zustand nicht, sie
hält sich für krank. Selbst ein Arzt ! ist unfähig eine Schwanger-schaft
festzustellen. Nach etwa sieben Monaten von unerklärlichen Schmerzen
überfallen, schleppt sie sich in die Waschküche im Hof, wo sie im
Dunkeln ganz allein von einer Sturzgeburt überwältigt wird. Ob das
Neugeborene überhaupt lebte oder lebensfähig war, bleibt ungeklärt.
Sie stürzt damit im dunklen Hof und verbirgt das Leblose im Stall. In
Verwirrung, Angst, Verzweiflung und Erschöpfung verbringt sie die Nacht
und flieht in Panik aus der Stadt
aber wohin? - Sie kehrt zurück,
wird verhaftet und verhört: aus Angst vor der Folter gesteht die Analphabetin,
was ihr unterstellt wird, mann hat ihr "starck zugesetzet"! - Später
widerruft sie ihr Geständnis: "Ich habe keine Hand daran
gelegt." - Völlig am Ende ihrer Kräfte, wird sie in ein Hospital
gebracht, von zwei Soldaten bewacht: selbst nach zwei Monaten geht es der
Gefangenen noch sehr schlecht; dennoch wird sie in eine Gefängniszelle
im Katharinenturm transportiert, wo ihr gnädig warme Kost und ein Bett
zugestanden werden.
Mutter Goethes Vater, Dr. jur. Textor, Bürgermeister und "HochEdler Rath"
und ihr Bruder, Senator Dr. jur. Textor sind verantwortlich
für das barbarische Urteil und die Vollstreckung. Die Strafgerichtsbarkeit
liegt beim Rat der Stadt: Im Todesurteil behauptet dieser, dass
die Magd "vorsetzlich und boshafterweise" Mord verübt habe und deshalb
zu der "wohlverdienten Strafe und anderen zum abscheulichen Exempel mit dem
Schwerdt vom Leben zum Todt zu bringen sei". - Am 11. Januar lehnen die Räte
selbst das Gnadengesuch ab, da "nicht die geringste Ursache einer Begnadigung
vorhanden ist". - Über wen ist hier der Stab zu brechen?
(In Frankfurt hatte mann schon 1745 und 1758 zwei Kindsmörderinnen exekutiert.)
Dass den jungen Goethe diese Hinrichtung "so berührt hat", ist eine Legende,
denn als Minister in Weimar hat er selbst ein Todesurteil über eine Kindsmörderin
unterschrieben, keine Gnade walten lassen: "Edel sei der Mensch
"? -
. Väter und Söhne bleiben gnadenlose Richter über Frauenopfer.
Auch Kant befürwortet die Todesstrafe für Kindsmörderinnen.
- Finsterste "Aufklärung".
Der einzig menschliche Jurist ist Dr. Schaaff, der die Magd mit kritischem
Scharfsinn verteidigt: die Angeklagte ist "mehr unglücklich als
lasterhaft"; sie musste fürchten, "der Schande und Verachtung der
Welt" ausgeliefert zu werden. Verursacher ist der Vergewaltiger, der,
um seinen "verruchten Endzweck" zu erreichen sie mit "unerlaubten Mitteln
völlig unfähig" machte, "seinen geilen Begierden" Widerstand
zu leisten: "Dieser Bösewicht ist die moralische Ursache alles des Unglücks",
das die bedauernswerte Angeklagte trifft. Sie ist überdies so arm,
dass sie kein Kind aufziehen, geschweige den flüchtigen Verbrecher zur
Unterhaltszahlung heranziehen kann. - Diese Tatsachen müssen als Entschuldigung,
als mildernde Umstände gelten. Die Verbergung der Schande, in die der
Täter sein schuldloses Opfer gestürzt hat, "war der Hauptbewegungsgrund"
ihres Handelns, nicht Mord.. Der Verteidiger plädiert für milde
Strafe und Gnade seitens der "Ew. Wohl- und HochEdelgebohrne Gestrenge und
Herrlichkeiten." - Vergeblich. - Überdies sieht er diesen Fall im Kontext
unerträglicher Missstände und plädiert für die Stiftung
eines Findelhauses: Margarethe ist die erste nicht - und nicht die letzte
Unglückliche.
Es ist schier unbegreiflich, dass Siegfried Birkner 1973 noch immer unfähig
ist, zwischen "Verführung" und Vergewaltigung zu differenzieren, ja er
hält die Vergewaltigung für ein "Glück" des Opfers! Er schreibt
: "die Dienstmagd Susanna Margaretha Brandt
hat von den Freuden des Lebens
nichts mitbekommen, und als endlich einmal ein Mensch (Mann, der Vergewaltiger,
H. S.) nett und lieb zu ihr war, hatte der nur sein eigenes Vergnügen
im Sinn, wurde ihr das kurze Glück zum Verhängnis." (Seite 104)
Wie pervers, dumm und zynisch kann ein Mann im 20. Jahrhundert noch immer
daher schwatzen?!
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