Feministische Theorie und Praxis des gewaltlosen Widerstandes
Zum 150. Geburtstag von Emmeline Pankhurst
14. 7. 1858 - 14. 6. 1928
Emmeline Pankhurst
Gewaltloser Widerstand wird heute in vielen Kreisen als
moralisch-politisch überlegene Alternative zu gewalttätigem und
bewaffnetem Widerstand hoch geschätzt. Männern, Führern
politischer und sozialer Organisationen, begegnet mann in der Öffentlichkeit
mit grösstem Respekt, ja Bewunderung: sie werden mit Ehrungen aller Art
bedacht, geradezu überschüttet. Zu denken ist an Gandhi, der
fälschlicher Weise als Vater des gewaltlosen Widerstandes gilt, an Pastor
Martin Luther King, Hungerstreikende in Irland um 1980 usf..
Von Frauen ist in diesem Zusammenhang nie die Rede, denn in der herrschenden
Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft ist nur von Bedeutung, was Männer
denken und tun, selbst dann, wenn sie Theorie und Praxis von verfemten Frauen
übernommen haben, lediglich Imitatoren sind. Es ist ja eine der Gesetzmässigkeiten
alt-neuer patrokratischer Regimes, dass sich das herrschende Geschlecht Verdienste
aller Art von Frauen aneignet, um sich selbst als Urheber, Väter aller
Dinge und Gedanken auszugeben.
Geschichtsschreiber wissen nichts "vom Heroismus der Frauen, wie ihn die Welt
höchst selten erlebt hat.
Während vieler Jahrtausende hat die Militanz der Männer die Welt
im Blut ertränkt, und für diesen Horror, diese Zerstörungen
werden sie mit Denkmälern, Liedern und Heldengeschichten belohnt.
Die Militanz der Frauen hat keine Menschenleben vernichtet - ausser die Menschenleben
der Frauen selbst, die den Kampf für Gerechtigkeit anführten. Die
Zeit wird zeigen, welche Anerkennung diesen Frauen zu teil wird." (Emmeline
Pankhurst, 1914). Diese Zeit ist auch über hundert Jahre später
noch nicht gekommen: mir ist keine Universität in Deutschland bekannt,
an der auch nur ein einziges Forschungsprojekt besteht, das diese grösste
feministische, also radikaldemokratische, heroische Bewegung in Europa erforscht
und Ergebnisse publiziert, geschweige denn, dass an Universitäten und
Schulen Kenntnisse davon vermittelt werden.
Der unblutige, gewaltlose Kampf dieser Frauen für Menschen- und Bürgerinnenrechte
wird heute noch immer nicht sachlich beurteilt, geschweige denn gerecht bewertet,
übler noch, diese Theorie und Geschichte ist - eliminiert, als hätte
es sie nie gegeben. Heute - wie vor 100 Jahren - grassieren die
primitiven Vorurteile der Antifeministen, dass weibliche Menschen minderwertig,
dass folglich ihr Kampf für Menschenrechte illegitim ist und dass die
Vertreterinnen dieser Widerstands-Theorie und -bewegung Psychopathinnen oder
Kriminelle (Feministinnen) sind. Die fortwuchernden, bösartigen Vorurteile
namentlich von Wissenschaftlern und Journalisten, haben dazu geführt,
dass die geschichtlichen Fakten noch immer ignoriert werden. Folglich ist
selbst heute die Tatsache völlig unbekannt, dass Theorie und Praxis des
gewaltlosen Widerstandes zuerst von feministischen Frauen, den Suffragetten
entwickelt und durchgeführt worden sind. Die geistige Mutter dieser Bewegung
und politisch-feministischen Philosophie ist Emmeline Pankhurst, Gründerin,
Anführerin und Organisatorin der WSPU, zusammen mit all' den Frauen,
die sich ihr anschliessen. Mrs. Pankhurst nennt die Theorie und Taktik der
Women's Social and Political Union (WSPU; Soziale und Politische Frauen-Union)
- der offizielle Name - "friedliche Militanz"; friedlich, unbewaffnet,
unblutig ist dieser Frauenkampf im Gegensatz zu Theorie und Praxis von
Männern, die in ihren Partei-Kämpfen untereinander, selbstverständlich
alle Arten von Gewalttätigkeiten, selbst Waffengewalt, blutige Bürgerkriege
und politische Morde als legitime Mittel rechtfertigen.
Die Prinzipien der "friedlichen Militanz" stellen also eine völlig neue
politische Theorie und Praxis dar, die am Anfang des 20. Jahrhunderts von
aufständischen Frauen im Widerstandskampf gegen die antifeministische
Willkürherrschaft der sogenannt demokratischen Regierungen entwickelt
wurde. Diese wird später von Männern auch "bürgerlicher
Ungehorsam" genannt; davon ist ursprünglich keine Rede, weil die gesamte
weibliche Bevölkerung Englands, Schottlands und Irlands keinen Status
als Bürgerinnen hat.
Die Originalität dieser Theorie und ihre Erprobung in der täglichen
Praxis, diese historischen Verdienste der grössten Frauenbewegung in
Europa sind schwerwiegende Gründe, die Geschichte dieser Organisation
der Vergessenheit zu entreissen und den herrschenden, primitiven Vorurteilen,
dem grundlosen Frauenhass, der tiefen Frauen-Verachtung, den gemeinen Diffamierungen
und niederträchtigen Lügen der Antifeministen einige Tatsachen entgegenzusetzen.
Ausser den Ideen des organisierten, militanten, doch gewaltlosen Widerstandes
in vielen Formen hat Emmeline Pankhurst grundsätzliche Erkenntnisse zur
politisch-feministischen Autonomie, der Unabhängigkeit der Frauenbewegung
von Männer-Parteien entwickelt, die heute noch höchst aktuell, ja
brisant sind.
Mrs. Pankhurst ist kein Mensch, der theoretische Bücher schreibt und
den praktischen Kampf anderen überlässt, im Gegenteil; sie verbindet
historisch-theoretische Kenntnisse und lange Lebenserfahrungen aufs engste;
aus neuen Erfahrungen zieht sie Schlussfolgerungen theoretischer Art, die
sie in ihren Reden direkt verbreitet (und die alle Mitglieder über die
eigene Wochenzeitung schnell erreichen), worauf zunehmend militante Aktionen
folgen. Sie ist eine Frau von seltenem Charisma, eine mitreissende Rednerin,
ein Mensch von äusserster Willenstärke und dem Heldinnen-Mut einer
wahrhaft grossen Führerin. Sonst wäre es wohl kaum gelungen, in
wenigen Jahren eine so grosse Zahl von Anhängerinnen zu rekrutieren,
die ihr unverbrüchlich solidarisch auf dem Weg des jahrelangen, politischen
Martyriums folgen. (Meines Wissens sind ihre Reden noch immer nicht herausgegeben.)
Mrs. Pankhurst erkennt bereits, dass es Frauen um Unabhängigkeit von
Männer-Parteien gehen muss: statt "Integration", Indienstnahme von Frauen
für Männer-Interessen in Männer-Organisationen unter deren
Führern, müssen Frauen sich autonom, unabhängig davon, in eigener
Organisation auf der Grundlage ihres eigenen Programms organisieren - ohne
Männer. Zufolge ihrer eigenen kritischen Analyse sind das die unbedingt
notwendigen Voraussetzungen, um Fraueninteressen zu vertreten.
Jugend, Ehe und Lehrjahre
Emmeline Goulden, eines von elf Kindern, wird 1858 in
Lancashire bei Manchester geboren. Ihre Mutter war Hausfrau, ihr Vater Baumwollspinner:
"Über meine und meiner Schwestern Ausbildung wurde fast nie gesprochen,"schreibt
sie: Sie erhielten keine. Während eines längeren Aufenthalts in
Frankreich (von daher rührt ihre grosse Bewunderung für Jeanne d'Arc)
erwirbt sie lediglich etwas Sprachkenntnisse, das ist alles. -
Eine frühe Heirat findet nicht statt: ihr Vater weigert sich, ihr eine
Mitgift zu geben, der Bräutigam weigert sich, sie ohne Geld zu heiraten.
Die junge Emmeline muss im Vaterhaus bleiben, in dem grossen Haushalt weiter
Hausarbeit leisten. - Ihre Mutter ist jedoch sehr am Frauenwahlrecht interessiert
und nimmt ihre Tochter hin und wieder mit zu Versammlungen der Suffragisten
(zu unterscheiden von den Suffragetten). Dort trifft sie
Dr. Richard Pankhurst, ein sozial engagierter Jurist und Freund von John S.
Mill, der bereits 1867 im Unterhaus ein Plädoyer für das Frauenwahlrecht
gehalten hatte (der Autor, der 1869 mit Harriet und Helen Taylor das
Aufsehen erregende Werk "On the Subjection of Women" publiziert hatte).
Pankhurst ist ein Radikaler. Schon 1870 hatte er zwei Gesetze im Fraueninteresse
entworfen: erstens, The Women's Disabilities Removal Bill (Aufhebung der (Rechts-)Unfähigkeit
von Frauen); zweitens, The Married Women's Property Act (Das
Eigentum von Ehefrauen). Diese Gesetzentwürfe beinhalten das Eigentumsrecht
von Ehefrauen, denn ihre Mitgift und sogar ihr eigener Lohn werden automatisch
Eigentum der Ehemänner. - Dr. Pankhurst setzt sich also schon jahrelang
für Frauenrechte ein und tut es bis zum Ende seines Lebens. Erheblich
älter und erfahren im politischen Kampf, er ist damals ein unabhängiger
Liberaler, wird er in den ersten Jahren ihr politischer Mentor. - Doch seit
den Kinderjahren ist Emmeline Goulden vertraut mit politischen Diskussionen
über das Frauenwahlrecht und die Abschaffung der Sklaverei der Schwarzen
nach dem Bürgerkrieg in den USA. Diese frühen Diskussionen "erweckten
in mir zwei starke Empfindungen, die mich mein Leben lang bewegten: erstens,
Bewunderung für den Kampfgeist, der allein im Stande ist, die Zivilisation
zu retten; zweitens, hohe Wertschätzung der gütigen Geisteshaltung,
die Antrieb ist, die Verwüstungen des Krieges zu heilen."- "Schon
in sehr jungen Jahren, ich war nicht älter als fünf, kannte ich
die Bedeutung der Worte Sklaverei und Emanzipation recht gut" schreibt sie
in "My own Story", 1914.
Die Pankhursts haben fünf Kinder, die Töchter Christabel, Sylvia
und Adela und zwei Söhne; ein Knabe stirbt jung; eine schwere Geburt
bringt Mrs. Pankhurst in grösste Lebensgefahr. Die grosse Kinderschar
kostet sie viel Energie und Zeit, aber sie lässt sich nicht davon abhalten,
weiterhin sozial und politisch aktiv zu bleiben.
Über ihren Mann sagt sie: "Er verlangte nicht von mir, dass ich mich
zu einer Haushaltsmaschine mache."
Beide sind aktiv in der Women's Suffrage Society und in einem weiteren Verein,
der für die Durchsetzung des Gesetzes betreffend das Eigentum von Ehefrauen
arbeitet.
Als 1884 das Männer-Wahlrecht auf Landarbeiter ausgedehnt werden soll,
wird der Kampf für das Frauen-wahlrecht erneut verstärkt. In Manchester,
im ganzen Land werden Versammlungen abgehalten. Tatsächlich gibt
es im Unterhaus (House of Commons) schon eine Mehrheit für das Frauenwahlrecht,
aber Premierminister Gladstone, dessen liberale Partei 1906 an die Macht kommt,
befiehlt, dass die Liberalen gegen das Gesetz stimmen. Er ist ein "unerbittlicher
Feind des Frauenwahlrechts" und betreibt die Taktik des "Teile und herrsche"
gegenüber der weiblichen Bevölkerung; die anderen Männer-Parteien
folgen ihm: "Er propagierte, dass die politische Arbeit von Frauen darin besteht,
Männer-Parteien zu dienen. Eine der feindlichsten Taktiken in Gladstones
Karriere ist die Spaltung der Frauen, die bisher in eigenen Frauenwahlrechts-Gesellschaften
organisiert sind. Er erreicht sein Ziel, indem er diese unabhängigen
Organisationen durch "etwas ebenso Gutes" ersetzte, und das sind "Liberale
Assoziationen für Frauen", also Unterteile seiner Partei. Die Illusion
dieser Frauen besteht darin zu glauben, dass "wenn sie sich der Partei-Politik
der Männer anschliessen, sie dann bald das Frauenwahlrecht verdienen
werden. Die Bereitwilligkeit, mit der Frauen dieses leere Versprechen schlucken,
aufhören, im eigenen Interesse zu arbeiten und sich stattdessen in die
Arbeit für die Männer-Partei stürzen, ist erschreckend." Andere
Frauen schliessen sich der Konservativen Partei an: "keine dieser Parteien
hatte das Frauenwahlrecht auf ihrem Programm. Sie waren entstanden, um die
Ziele der Partei durchzusetzen, also Kandidaten der jeweils eigenen Partei
durch Unterstützung im Wahlkampf" ins Parlament, die eigene Partei an
die Macht zu bringen. Die Kandidaten aller Parteien sind ausschiesslich Männer.
Diese Ideologie und Strategie "Frauen arbeiten politisch zusammen mit Männern
in Männer-Parteien für Männerzwecke", beurteilt Mrs. Pankhurst
als politischen Betrug der Partei-Männer - und Irrweg dieser Frauen.
Auf Grund ihrer Erfahrungen kommt Mrs. Pankhurst zu dem Schluss: "unsere eigene
lange Verbindung mit den grossen Parteien, unsere Ergebenung in Parteiprogramme
und treue Mitarbeit in Wahlkämpfen brachte die Frauenwahlrechtssache
nie auch nur einen Schritt weiter. Die Männer nahmen die Dienste
der Frauen in Anspruch, aber sie boten niemals an, etwas dafür
zurückzuzahlen,"schreibt Mrs. Pankhurst.
Als die Landarbeiter (nur Männer) das Wahlrecht erhalten, während
alle Frauen weiterhin davon ausgeschlossen bleiben, fragen sich Partei-Frauen
nicht, auf welche Weise diese Männer ihr Ziel erreicht haben:
"Tatsache ist, sie hatten es erreicht durch Verbrennen von Heuschobern, Aufruhr
und andere Manieren, ihre Stärke zu demonstrieren, die einzige Art und
Weise, die englische Politiker begreifen. Die Drohung, 100 000 Mann in Marsch
auf das Unterhaus zu setzen, wenn das Gesetz nicht angenommen würde,
war ein schwer-wiegender Faktor, der den Landarbeitern das Wahlrecht brachte.
Aber keine Suffragistin schien das zu begreifen," so Mrs. Pankhurst
Auch sie kommt erst nach vielen Jahren unaufhörlicher Enttäuschungen
zu radikalen Erkenntnissen:
"Ich musste aus nächster Nähe einen Blick auf
das Elend und Unglück der Welt, die Männer gemacht haben, werfen,
ehe ich den Siedepunkt erreichte, von dem aus ich erfolgreich dagegen revoltieren
konnte."
Im Jahre 1903 ist sie soweit. Sie ist 42 Jahre.
Fünfundzwanzig Jahre lang hatten die Pankhursts alles getan, um in der
Liberalen, später in der Arbeiter-Partei Interesse für die Frauenfrage
zu wecken und Unterstützung dafür zu erhalten. Vergeblich.-
Emmeline Pankhurst hatte sich ausserdem in Sozialarbeit gestürzt: sie
wird zum Poor Law Guardian gewählt, zur Armenfürsorgerin in einem
Gremium, dessen Aufgabe es ist, Arbeits- Waisen- und Krankenhäuser zu
verwalten. Sie entdeckt allenthalben Misswirtschaft und überwältigendes
Elend der Armen, besonders kleiner Mädchen, lediger schwangerer und alter
Frauen. Sie ist die einzige Frau in dieser Verwaltung, und es wird ihr schnell
deutlich, dass hier neue Gesetze gebraucht werden, dass Frauen das Wahlrecht
haben müssen, um die Interessen von Frauen und Kindern, ganz besonders
auch in der Armenfürsorge zu vertreten. Vor allem "diese armen, rechtlosen
Mütter mit ihren kleinen Kindern
waren ein starker Faktor in meiner
Ausbildung zur Militanz." (My Own Story)
1898 stirbt Richard Pankhurst plötzlich. Seine Frau und vier Kinder bleiben
finanziell unversorgt zurück. Schulden müssen bezahlt, Möbel
verkauft, der Haushalt verkleinert werden. Auf Mrs. Pankhurst ruht nun die
schwere Last, allein den Unterhalt für fünf Personen zu verdienen.
Nur weil Dr. Pankhurst eine bekannte Persönlichkeit in Manchester war,
gibt man seiner Witwe ein Amt als "Registrar of Birth and Death" mit bescheidenen
Einkommen. Als sie später durch ihre militanten Aktivitäten bekannt
wird, wird sie entlassen.
Über diese Arbeit schreibt sie: "Ich war entsetzt,
dass ich wieder und wieder daran erinnert wurde, wie wenig Respekt für
Frauen und Kinder es in dieser Welt gibt. Kleine Mädchen von dreizehn
Jahren kamen in mein Büro, um die Geburt ihres Babies, selbstverständlich
illegitim, registrieren zu lassen. Ich vielen Fällen fand ich heraus,
dass der eigene Vater des Mädchens oder ein männlicher Verwandter
verantwortlich für ihr Elend waren. In den meisten Fällen konnte
ich nichts tun."
Als Mitglied des Manchester School Board sieht sie die höchst ungleiche
Behandlung von Lehrerinnen und andere Diskriminierungen im Schulsystem. Von
der mittleren, technischen Berufsausbildung "waren Mädchen
ausgeschlossen, weil die Männer-Gewerkschaften verhinderten, dass
sie für gelernte Arbeit ausgebildet wurden. Es wurde mir ganz schnell
deutlich, dass Männer Frauen als dienende Klasse einstufen
und dass
Frauen in dieser Dienstklasse bleiben werden, bis sie sich selbst daraus befreien."
Auch die Arbeiterpartei tut nichts für die Frauen, die in tiefster ökonomischer
Not und grösster Rechtlosigkeit leben, und genauso wenig tut sie etwas
in Sachen Frauenwahlrecht. Die Partei findet es vollkommen ausreichend, dass
Männer das Wahlrecht haben, dass sie selbst im Parlament sitzen. Als
die Arbeiterpartei in ihrem eigenen Gebäude, in ihrem Clubraum weiblichen
Parteimitgliedern der Zugang verweigert, ist das Mass voll.
Manchester 1903: Gründung der Women's Social and Political Union (WSPU)
Mrs. Pankhurst ruft einen kleinen Kreis empörter Frauen zusammen, die beschliessen, eine von den Parteien unabhängige Frauenbewegung unter dem Namen "Soziale und Politische Frauen-Union" ins Leben zu rufen. Dazu gehört ihre älteste Tochter Christabel, die Jura studiert.
Christabel Pankhurst
"Taten, keine Worte", ist ihr Motto. Allein Frauen werden
als Mitglieder
zugelassen; jede muss sich dazu verpflichten, mit der Politik der Organisation
solidarisch zu sein und keine Männerpartei zu unterstützen. Die
WSPU plant, die Regierung durch direkte Aktionen dazu zu nötigen, Frauen
endlich das Wahlrecht zuzuerkennen. Zwei Jahre lang tun die Gründerinnen
alles um Mitglieder zu werben, und zwar durch Reden und Diskussionen auf Strassen
und Märkten.
1905 hofft die Liberale Partei, an die Macht zu kommen. Während der Wahlkampagne,
in den Versammlungen fragen Frauen der WSPU die Kandidaten:"Wird die Liberale
Partei den Frauen das Wahlrecht geben?" - Allein diese Frage führt zu
Saalschlachten, Verhaftung der Frauen und Verurteilung zu Gefängnis-
oder Geldstrafen. Christabel Pankhurst und Annie Kenney, eine junge Fabrikarbeiterin,
sind die ersten, die bewusst die Gefängnisstrafe auf sich nehmen. Dieses
Ereignis verursacht grosses Aufsehen, die Zeitungen berichten davon: Zwei
ganz junge Frauen, Dr. Pankhursts Tochter im Gefängnis - eine Sensation.
Ihre Aktion wird landesweit bekannt. Viele Frauen hören davon und werden
Mitglied der WSPU. Das Frauenwahlrecht ist nun überall im Gespräch.
Diese Aktion wird für viele Frauen überall im Land zum Vorbild,
dem sie folgen. Jede Wahlversammlung endet nun in Tumulten; selbst Minister
kommen in Schwierigkeiten. Die Aktionen der WSPU-Frauen werden zu täglichen
Nachrichten in der Presse. Auch die nicht-militanten Frauenwahlrechts-Organisationen
werden wach gerüttelt.
1906: Die Eroberung Londons
In diesem Jahr beschliesst die WSPU ihr "Hauptbüro"
nach London zu verlegen. Das geschieht ohne Geld, mit noch sehr geringen Frauenkräften
- und einer geborgten Schreibmaschine.
Anlässlich der Eröffnung des parlamentarischen Jahres, macht sich
die erste Suffragetten-Demonstration von vierhundert Frauen auf den Weg -
zum Parlament. "Votes for Women" ist die Parole, die sie mit sich führen.
Über die Teilnehmerinnen schreibt Mrs Pankhurst rückblickend:
"Endlich waren sie aufgewacht. Sie waren bereit, etwas
zu tun, was Frauen nie zuvor getan hatten - kämpfen für sich selbst.
Frauen haben immer für Männer gekämpft, oder für ihre
Kinder. Nun waren sie bereit, für ihre eigenen Menschenrechte zu kämpfen.
Unsere militante Bewegung war geboren." -
Im Laufe von nur wenigen Jahren entsteht eine Organisation von etwa 260.000
Frauen, die sich zum Ziel setzt, mithilfe des Wahlrechts gleiche Bürgerinnenrechte
zu erkämpfen; auf diesem Wege soll eine neue gesetzliche und ökonomische
Ordnung entstehen. Sie lässt sich nicht teilen und beherrschen und für
Männerzwecke missbrauchen; sie ruft Frauen in Männer-Parteien, besonders
in der liberalen Partei dazu auf, aus diesen auszutreten. "Und
wir erklärten, dass wir nicht allein allen anti-Wahlrechts-Kräften
den Krieg ansagen, sondern auch allen neutralen und nicht-aktiven Kräften,
weil sie alle die frauenfeindliche, etablierte Politik unterstützen."
Die feministisch-politischen Prinzipien der Unabhängigkeit und Priorität
von Frauen-Interessen auf Seiten der WSPU in Konfrontation mit dem Antifeminismus'
der Parteien, Gewerkschaften, Regierungen und öffentlichen Meinung, führen
die militanten Aktivistinnen zwangsläufig zur Erfindung vieler neuer
Taktiken: Von lokalen Stützpunkten in England, Schottland und Irland
aus, überspülen die das Land mit Propaganda, wie nie zuvor geschehen.
Demonstration der WSPU: From Prison to Citizenship
In London reichen Frauen Schlag auf Schlag Petitionen
ein, die sie in gemeinsamen Aufzügen zum Parlament bringen. Das führt
regelmässig zu Strassenschlachten der Polizei, die mit grosser Brutalität
gegen die Frauen vorgeht. 1907 werden etwa 130 Frauen zu Gefängnisstrafen
verurteilt, allein aus dem Grund, dass sie dem Premierminister eine Petition
überbringen wollen. Sie nehmen die Gefängnisstrafen bewusst und
demonstrativ auf sich. Sie betrachten das als Ausdruck ihrer Ehre, Würde
und Entschlossenheit. Überdies ist die grosse Zahl der Gefangenen Beweis
für die eklatant undemokratische Gesellschaftsordnung und den Machtmissbrauch
der Regierung. Diese Ereignisse führen zu grosser Unruhe im öffentlichen
und politischen Leben.
Die täglichen Nachrichten vom Kampf der Suffragetten erreichen über
die Presse die gesamte Englisch sprechende Welt, auch den radikal-feministischen
Flügel, angeführt von Dr. Anita Augspurg und Lida G. Heymann in
Deutschland und einen unbekannten indischen Rechtsanwalt in Südafrika
namens Gandhi.
Die oben beschriebene Taktik des Unterbrechens von Wahlversammlungen wird
nun ein tägliches Ereignis, denn auch während einer Regierungsperiode
finden Nebenwahlen in verschiedenen Wahlbezirken statt. Mrs. Pankhurst
bereist das ganze Land und ist vor Ort, um WSPU-Frauen zu versammeln und anschliessend
die Partei-Veranstaltungen mit der Forderung nach Frauenwahlrecht zu unterbrechen.
Sie rufen die Wähler dazu auf, nicht mehr für die Liberalen zu stimmen.
Und die Partei verliert tatsächlich Sitze im Unterhaus.
Dieser erstaunliche Erfolg macht die Parteiführer und -anhänger
rasend und führt in einem Wahlkreis sogar dazu, dass Mrs. Pankhurst von
einem Mob überfallen und derart gewalttätig misshandelt wird, dass
sie bewusstlos zusammenbricht. Sie ist viele Monate krank. Keiner der Täter
wird von der Polizei verhaftet.
Alle herrschenden Gewalten, Gesetzgeber, Parteien, Justiz und Polizei arbeiten
zusammen, um diese Widerstandsbewegung, vor allem ihre Anführerinnen,
mit allen Machtmitteln zu bedrohen, zu entmutigen und zu unterdrücken.
Es ist eine liberale Regierung, die keine Machtmittel scheut - auch illegale
nicht - , um diese Frauenorganisation zu vernichten, aber sie erreicht das
Gegenteil: der Widerstand dieser Frauen wird immer stärker.
1907: Das Frauen-Parlament gegen das antifeministische Männer-Parlament
In diesem Jahr richtet die WSPU in London ihr Frauenparlament
ein, das regelmässig im Zentrum, in der Royal Albert Hall zusammen kommt.
Hier informieren die führenden Frauen die Mitglieder über den neuesten
Stand der Ereignisse, hier wird die Lage diskutiert, werden neue Aktionen
geplant und anschliessend ausgeführt.
Das Hauptbüro ist inzwischen enorm gewachsen: es umfasst 23 Räume,
einen Laden und weitere 13 Räume für die Frauenpresse. Die Zeitung
der WSPU, "Wahlrecht für Frauen", hat 1909 eine Auflage von 30.000 bis
50.000 Exemplaren pro Woche. 1910 hat das Londoner Büro 110 bezahlte
Mitarbeiterinnen; die Organisation hat 105 örtliche Niederlassungen.
Alles in allem eine glänzende politische und organisatorische Aufbau-Leistung,
trotz Armut und Rechtlosigkeit in nur wenigen Jahren aus dem Nichts geschaffen:
ein effektives Zentrum feministischen Widerstandes, einmalig in Europa des
20. Jahrhunderts.
Das Strafmass, das die Polizeirichter den Frauen auferlegen wird immer höher:
Drei Monate Gefängnis für den Versuch, eine Petition zu überreichen!
- Die Liberalen gehen selbst so weit, ein altes Gesetz aus der Feudalzeit
wiederzubeleben, das seinerzeit erlassen wurde, um die Liberalen zu unterdrücken,
das sie nun selbst einsetzen, um diese Bewegung für bürgerrechtliche
Freiheit des weiblichen Volkes zu bekämpfen.
Während einer grossen Protestdemonstration, angeführt von Mrs. Pankhurst,
wird sie verhaftet. Ein Polizeirichter verurteilt sie zu sechs Wochen Haft
in dem berüchtigten, mittelalterlichen Gefängnis Holloway, zweite
Abteilung, d. h. für Kriminelle : "Die Regeln waren extrem grausam
Briefe
und Besuche waren in den ersten vier Wochen nicht erlaubt." - Endlich freigelassen,
wird sie von ihren Mitkämpferinnen, darunter hunderte Ex-Gefangene, jubelnd
empfangen. Zu ihren Taktiken gehört es inzwischen, während ihrer
Demonstrationszüge in Gefängniskleidung aufzutreten.
Suffragetten in Gefängniskleidung, 1908
Eine noch grössere Zahl der Wähler verweigert
den Liberalen ihre Stimme. Auch Winston Churchill, ein fanatischer Antifeminist,
verliert seinen Sitz. Premierminister Asquith jedoch verschärft die Massregeln
gegen die WSPU-Frauen immer weiter. Das zwingt diese, ihrerseits immer militantere
Aktionen auszuführen.
Als Gladstone behauptet, dass die WSPU-Frauen unfähig wären, eine
grosse Menschenmenge auf die Beine zu bringen, so wie Männer es tun,
wenn sie politisch etwas durchsetzen wollen, beschliesst die WSPU, 250.000
Frauen und Männer zu einer Grossdemonstration im Hyde Park zu organisieren.
Mit übergrosser Anstrengung der Frauenkräfte, Einsatz von Geld-
und Propagandamitteln wird diese Riesen-Unternehmung verwirklicht: Extra-Züge
bringen Leute aus dem ganzen Land nach London.
Im Hyde Park sind zwanzig Tribünen errichtet, um Reden zu halten. Mrs.
Pankhurst schreibt später:
"Als ich meine Tribüne im Hyde Park bestieg und die
gewaltige Menschenmasse überblickte, die da versammelt war und die endlosen
Menschenströme sah, die aus allen Richtungen noch immer dem Park zuströmten,
erfasste mich grosses Staunen. Nie hätte ich gedacht, dass so viele Leute
versammelt werden konnten, um an einer politischen Demonstration teilzunehmen."
- Die Versammlung dauert den ganzen Tag und am Ende unterstützen alle
eine Resolution mit der Forderung an die Regierung: "Frauenwahlrecht - jetzt!"
Nicht 250.000, sondern 500.000 Menschen, vielleicht sogar 750.000 haben
daran teilgenommen.
Die Zeitungen bringen grosse Berichte, eine schrieb: " Es ist sehr wahrscheinlich,
dass niemals zuvor so viele Menschen auf einem Platz irgendwo in England zusammengekommen
sind." - Aber die Regierung reagiert nicht.
Die WSPU will nun den Premierminister sprechen, aber Zusammenkünfte auf
dem Parlamentsplatz werden verboten. Als Mrs. Pankhurst mit einer Frauen-Delegation
dennoch das Unterhaus betreten will, wird sie nicht eingelassen. Abends sind
etwa 100.000 Menschen auf dem Platz. Die WSPU-Frauen kommen und halten Reden,
die Polizei versucht, sie zu vertreiben und verhaftet viele. Einige Männer
kommen den Frauen zu Hilfe, andere, der Mob attackiert sie. Minister und Abgeordnete
sind Zeugen der Gewalttätigkeiten, die bis Mitternacht dauern, sehen
aber tatenlos zu. Neunundzwanzig Frauen werden verhaftet.
In Downing Street 10 haben inzwischen zwei Frauen Steine in die Fenster geworfen.
Das geschieht ohne Wissen von Mrs. Pankhurst, der verehrten Anführerin,
die die Täterinnen jedoch ohne Zögern unterstützt:
"Das Einschlagen von Fensterscheiben ist eine historisch
ehrenwerte Methode, um Unzufriedenheit mit einer politischen Situation zu
demonstrieren
Scheiben einschlagen wird als ehrenhafter Ausdruck politischer
Meinung betrachtet, wenn Männer es tun, aber wenn Frauen es tun, dann
ist es ein Verbrechen!"
Diese politische Doppelmoral weist Mrs. Pankhurst entschieden zurück.
Doch die zwei Frauen, die die ersten Steine geworfen hatten, werden mit zwei
Monaten Gefängnis bestraft. Das ist im Jahr 1908.
Christabel P. befragt Mr. L. George in einer Gerichtsverhandlung
Anlässlich der Eröffnung der neuen parlamentarischen Saison, verbreitet die WSPU den Aufruf: "Männer und Frauen, helfen sie den Suffragetten das Unterhaus zu bedrängen." Auf Grund dessen werden Mrs. Pankhurst, ihre Tochter Christabel und Mrs. Drummond verhaftet.
Mrs. Drummond, Mrs. Pankhurst und Christabel werden verhaftet
Die Anklage lautet: Aufruf zu Friedensbruch und öffentlicher Gewaltanwendung." Das Recht auf einen Prozess vor einem Geschworenen-Gericht wird ihnen auch jetzt noch verweigert. Auf Befehl der Regierung werden alle Suffragetten stets im Schnellverfahren von Polizeirichtern verurteilt, d. h. als Kriminelle, nicht als politische Täterinnen behandelt. Mrs. Pankhurst und Mrs. Drummond werden zu drei Monaten, Christabel Pankhurst zu 10 Wochen Gefängnis verurteilt.
Mrs. Pankhurst im Gefängnis
Im Gefängnis Holloway sitzen viele Suffragetten
- es kommt zu einem Aufstand hinter den Gefängnismauern. Vor den Mauern
protestieren tausende Anhängerinnen, bis die Polizei sie mit Gewalt vertreibt.
Freigelassen, ruft Mrs. Pankhurst alle gefangenen Frauen auf, die Gefängnisregeln
zu übertreten und alles zu tun, um - wie Männer - als politische
Gefangene anerkannt zu werden. Alle folgen ihrem Aufruf.
"
unsere Erfahrungen hatten uns gelehrt, uns von Angst
zu befreien. Schüchternheit, Zurückschrecken vor Schmerzen und Entbehrungen,
alles hatten wir hinter uns gelassen. Es gab keinen Terror, dem wir nicht
ins Auge sehen würden," schreibt Mrs. Pankhurst im Jahre 1909.
-
Die Regierung eskaliert den politischen Konflikt immer weiter: das einzige
Recht, das Untertaninnen besitzen,
das Petitionsrecht, schafft sie jetzt ab. Dennoch führt Mrs. Pankhurst
erneut eine Delegation von acht Frauen zum Parlament. Voran reitet eine Frau
zu Pferde, Jeanne d'Arc, die Symbolfigur der Organisation. Eine grosse Menschenmenge
entlang der Strassen ist Zeugin des Geschehens. Diesmal erreichen die
Frauen die Pforten des Unterhauses, aber der Premierminister weigert sich,
sie zu empfangen. Mrs. Pankhurst wird verhaftet. Zwischen der Polizei und
den Suffragetten kommt es zu einer Strassenschlacht, die bis in die Nacht
dauert. Viele Fenster von Regierungsgebäuden gehen zu Bruch.
Politische Gefangene - "go on the blanket"
Hundertachtzig Frauen werden verhaftet und verlangen,
als politische Gefangene behandelt zu werden. Sie weigern sich, Gefängniskleidung
anzuziehen. Also werden ihnen die eigenen Kleider vom Leibe gerissen, worauf
sie sich in Gefängnisdecken wickeln: "To go on the blanket" (in die Decke
gehen) ist seitdem eine der Widerstands-Taktiken politischer Gefangener, die
unlängst auch in Irland wieder praktiziert wurde. Diese "Meuterei" wird
schwer bestraft. Die Frauen werden mit Handschellen und Zwangsjacken gefesselt,
und ihnen wird verschärfter Arrest in Dunkelzellen auferlegt. Überall
in den Gefängnissen beginnen die Frauen nun mit Hungerstreiks. Erst als
eine Frau in Lebensgefahr schwebt, gibt der Innenminister Befehl, sie frei
zu lassen. Das muss er schliesslich auch im Falle der anderen Hungerstreikerinnen
tun. Diese elenden Zustände und die äussersten Willkür-Massregeln
führen dazu, dass die öffentliche Meinung - zum Teil - zu Gunsten
der Suffragetten umschlägt: mann fühlt politische Sympathie für
sie und kritisiert die Regierung. Diese sieht ihre Machtmittel stumpf werden
und ihr Ansehen beschädigt.
Der Premierminister hat inzwischen solche Angst vor Konfrontationen mit den
Suffragetten, dass er sich wie der russische Zar während der Revolution
beschützen lässt.
Mutter und Tochter Pankhurst im Gefängnis
Hungerstreiks und Zwangsernährung
Auf Befehl der Regierung greift die Gefängnisverwaltung
nun zum Mittel der Zwangsernährung mit Gummischläuchen. Sie nannte
es "medizinische Behandlung", obwohl diese lebensgefährlich, äusserst
schmerzhaft und ausserdem ungesetzlich ist. Dies führt zu öffentlicher
Kritik von Ärzten, der Presse und verschiedener Abgeordneter.
Während der Wahlkampagne von 1910 ziehen die WSPU-Frauen wiederum gegen
die Liberalen - in 40 Wahlkreisen - zu Felde, wodurch die Partei 18
Sitze und damit die Mehrheit im Parlament verliert: das ist die Antwort der
Wähler auf die Tatsache, dass die Liberalen 450 Frauen gefangenhalten.
Angesichts der neuen politischen Konstellation, beschliesst die WSPU abzuwarten,
mit ihrem militanten Widerstand innezuhalten.
1910: Verhöhnung statt Versöhnung
Ein "Versöhnungskommitee", bestehend aus Abgeordneten
aller Parteien, entwirft ein Gesetz, das für alle Fraktionen akzeptabel
sein soll. Das feministische Prinzip, Wahlrecht für Frauen unter den
gleichen Bedingungen, die für Männer gelten, wird jedoch ignoriert.
Widerwillig stimmt schliesslich auch die WSPU zu; sie fürchtet politischen
Verrat von Seiten des Premierministers Asquith.
Die zweite Lesung des Gesetzes wird von der Mehrheit des Unterhauses unterstützt,
aber die Prozedur wird auf Befehl von Asquith unterbrochen. Das Gesetz kommt
dann während dieser Sitzungsperiode nicht mehr auf die Tagesordnung.
Also beginnt die WSPU erneut mit ihren Aktionen: vierhunderfünfzig Frauen
machen sich, angeführt von Mrs. Pankhurst, auf den Weg zum Parlament,
um eine Petition zu überreichen.
Dieser Tag, der 18. November 1910, wird zum "Schwarzen Freitag", ein Tag der
Strassenschlachten mit nie zuvor gesehener Brutalität der Polizei. Die
Regierung fürchtet das Zusammengehen ihrer liberalen Frauen mit den Militanten.;
sie plant daher, die WSPU-Frauen äusserst hart zu bestrafen
- ohne sie zu inhaftieren.
Sie gibt Befehl an die Polizei in Uniform und Zivil, derartigen Terror auszuüben,
dass die Frauen aufgeben. Die Polizisten schlagen mit noch grösserer
Gewalt und Grausamkeit zu: sie schlagen so lange mit Fäusten auf Frauen
ein, bis sie verwundet liegen bleiben. Polizei zu Pferde ist eingesetzt, um
sie zu verjagen:
"Die Polizisten ritten direkt in den Demonstrationszug der Frauen, die nach
rechts und links ausweichen mussten. Aber sie wollten der Gewalt nicht weichen.
Wieder und wieder kamen sie zurück, mussten aber immer erneut vor den
Hufen der Pferde fliehen. Einige Frauen liefen auf den Bürgersteig, aber
auch da verfolgte sie die berittene Polizei und trieb sie gegen die
Häuserwände, sodass sie in Gefahr waren erdrückt zu werden.
Andere flohen in Hauseingänge, aber Polizei zu Fuss zerrte sie heraus
und warf sie direkt vor die Pferde. Trotzdem kämpften die Frauen weiter,
um mit ihrer Resolution das Unterhaus zu erreichen. Sie kämpften, bis
ihre Kleidung zerrissen, ihre Leiber zerschunden und ihre letzten Kräfte
erschöpft waren."( E. Pankhurst)
Nach fünf Stunden derartiger Strassenkämpfe, beginnen einige Zuschauer,
den Opfern zu Hilfe zu kommen: schliesslich werden 115 Frauen, die meisten
verwundet, verhaftet; ausser ihnen auch vier Männer. Das alles geschieht
vor den Türen des Parlaments, aber kein einziger Abgeordneter greift
ein: Loyalität gegenüber der eigenen Partei, dem eigenen Geschlecht
- hat absoluten Vorrang.
Die verhafteten Frauen werden auf Befehl des Innenministers freigelassen.
Mann wünschte keine Prozesse und keine öffentliche Diskussion über
die Brutalitäten der Polizei.
Nun gehen die Frauen nach Downing Street 10. Als der Primeminister flüchtet,
wird eine Scheibe seines Autos eingeschlagen. Nachts klirren die Scheiben
von Regierungsgebäuden und Häusern der Liberalen. In dieser Woche
werden 160 Frauen verhaftet, aber nicht zu Gefängnisstrafen verurteilt,
denn es gibt wieder Wahlen und die Liberalen fürchten, Stimmen zu verlieren,
wenn so viele Frauen im Gefängnis sitzen.
Im Jahre 1911 kommt die Liberale Partei erneut an die Macht, und der Terror
gegen Frauen geht weiter.
Auch die Arbeiterpartei und die Irische Partei unterstützen diese verbrecherische
Politik - gegen Frauen!
Kein Wahlrecht - keine Volkszählung
Anlässlich einer Volkszählung organisiert die
WSPU den "census resistance", d. h. Weigerung, sich zählen zu lassen.
Es gibt zwei Möglichkeiten des Widerstandes: erstens, die Weigerung,
den Fragebogen zu beantworten; darauf steht ein Monat Gefängnisstrafe;
zweitens, die Zählung zu boykottieren - durch Abwesenheit, einfach nicht
zu Hause sein. Zehntausende Frauen übernachten an unbekannten Orten,
viele in Massenquartieren. Die Regierung ist machtlos, die Daten der Volkszählung
sind wertlos. Mrs. Pankhurst argumentiert:
"Solange Frauen nicht als Menschen zählen, die das
Recht auf Repräsentation im Parlament haben, solange Frauen nicht als
Steuerzahlerinnen zählen, solange weigern wir uns, gezählt zu werden."
Sie greift damit - scharfsinnig - den politischen Schlachtruf der Bürger
gegen den Adel "No taxation without representation" auf und beansprucht Geltung
dieses "demokratischen Grundsatzes" für Frauen - gegenüber
dem Männer-Regime, das sie von politischer Repräsentation ausschliesst.
1912: noch mehr Männer-Wahlrecht - noch mehr Steine
Inzwischen sabotiert die Regierung die Annahme des ungleichen
Frauenwahlrechts weiter. Doch Asquith gibt sein Ehrenwort, dass das Gesetz
im Jahre 1912 endlich angenommen wird. Schnell wird deutlich, dass er wortbrüchig
ist: das "Versöhnungs-Gesetz" wird mit einem Gesetzentwurf zum Männlichkeits-Wahlrecht
("Manhood Suffrage Bill") torpediert, das seine Regierung jetzt vorlegt. Das
ist ein politischer Affront ohne gleichen. Die WSPU verlangt, dass dieser
Entwurf, der wieder Männer privilegiert, ersetzt wird durch ein Gesetz
für gleiches Wahlrecht für Frauen und Männer.
Aufs äusserste empört, werfen Frauen überall in London die
Fenster öffentlicher Gebäude ein. 220 Frauen werden verhaftet, 150
zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Mit eisernem Willen und grossem
Mut ruft Mrs. Pankhurst die Suffragetten auf, sich auf noch härteren
Kampf vorzubereiten. Sie ruft dazu auf, immer aufs neue Steine zu werfen und
Eigentum zu beschädigen. Kein Argument, keine Demonstration hat sie bisher
weitergebracht: Frauen sind in Strassenschlachten verwundet worden, haben
in Gefängnissen Qualen gelitten und sind an den Folgen gestorben, wie
Mrs. Pankhursts Schwester (Mary Clark).
"Jeder Fortschritt in Fragen politischer Freiheit der Männer,
war gekennzeichnet durch Gewalt und Zerstörung von Eigentum. Gewöhnlich
war der Fortschritt gekennzeichnet durch Krieg, der ruhmreich genannt wird
("Glorious Revolution"). Machmal ist er gekennzeichnet durch Aufruhr, der
als weniger ruhmreich gilt, aber wirkungsvoll ist."- Die Angst
der Regierung, dass Männer Aufruhr verbreiten und Schäden anrichten,
führt dazu, dass die von ihnen verlangten Gesetze verabschiedet werden,
und zwar in grosser Eile. Also müssen auch die WSPU-Frauen diesen Weg
beschreiten.
Mrs. Pankhurst handelt wie immer beispielhaft: am 11. März 1912 beginnt
sie in Downing Street 10 mit dem Steinewerfen; anschliessend werden in den
grossen Geschäftsstrassen im Zentrum Londons systematisch die Scheiben
eingeschlagen - zur grossen Überraschung des Publikums und der Polizei.
Erneut werden viele Frauen, worunter Mrs. Pankhurst, zu langen Gefängnisstrafen
und selbst zu Zwangsarbeit verurteilt. Die Gefängnisse sind überfüllt,
die Disziplin ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Regierung gerät
in Panik und lässt die Führerinnen der WSPU wegen Verschwörung
und Aufstachelung zur Beschädigung von Eigentum anklagen. Die Polizei
umzingelt und durchsucht das Büro der Organisation, um alle Führerinnen
zu verhaften.
Christabel Pankhurst flüchtet rechtzeitig. Sie ist im ganzen Land die
meist gesuchte "Verbrecherin", während sie aus Paris die Union weiterführt.
So bricht selbst in der Zeit der grössten Verfolgung die Organisation
nicht zusammen; trotz aller Schwierigkeiten erscheint die Zeitung weiter.
Mrs. Pankhurst muss wegen sehr schlechter Gesundheit aus dem Gefängnis
entlassen und der "Verschwörungsprozess" verschoben werden. Es wird ein
Schauprozess. Der Richter vertritt den Standpunkt, dass die Angeklagten keine
politischen Täterinnen, sondern gewöhnliche Kriminelle sind: "Die
Frage, ob Frauen das Recht zu wählen haben, ist überhaupt kein Gegenstand
dieses Prozesses,"erklärte er. Dieser Richter ignoriert die politischen
Ursachen und Motive im Widerspruch zu seiner eigenen Erklärung zu einem
früheren Zeitpunkt. Da hatte er gesagt: "Als die grosse Masse des Volkes
ohne Wahlrecht war, musste sie etwas Gewalttätiges tun, um zu zeigen,
was sie dachte." - Die angeklagten Frauen hingegen, betrachtet er als Verbrecherinnen!
Mr. Pethick-Lawrence (seine Frau ist Mitglied der WSPU und er unterstützt
sie und die Organisation), ist auch angeklagt und antwortet: "Die Verschwörung
und die Aufstachelung gehen nicht von uns aus; die Verschwörung ist eine
Verschwörung des Kabinetts, das verantwortlich ist für die Regierung
Minister haben den Frauen den Rat gegeben, dass sie niemals das Wahlrecht
erhalten, wenn sie nicht lernen, so dafür zu kämpfen, wie Männer
es tun." - Mord, vielfacher Mord auf Männerseite, wird als politisches
Verbrechen betrachtet, aber
"das sind Männer, die einen Männerkrieg führen.
Wir von der WSPU sind Frauen, die einen Frauen-Krieg führen. Allein aus
diesem Grund sieht Lord Coleridge (der Richter) in uns nur rücksichtslose
und kriminelle Verächterinnen der Gesetze", schreibt Mrs. Pankhurst
bitter. Die angeklagten Frauen werden zu neun Monaten Gefängnis, Abteilung
für Kriminelle und zu den Kosten des Prozesses verurteilt. Männer
erhalten in vergleichbaren und weit schweren Fällen viel geringere Strafen
oder gehen völlig frei aus.
Die Verfolgung der WSPU-Frauen mit dem Ziel, ihre Organisation vollständig
zu vernichten, wird immer grausamer: nun werden schon Strafen von fünf
Jahren Zwangsarbeit auferlegt.
In der WSPU-Versammlung am 17. Oktober 1912 erläutert Mrs. Pankhurst
noch einmal die politische Philosophie der WSPU:
"Die einzige Rücksichtslosigkeit, die Suffragetten
jemals begangen haben, ist die gegen ihr eigenes Leben, nicht das von Anderen.
Es war niemals die Politik der Sozialen und Politischen Frauen-Union, Menschenleben
rücksichtslos in Gefahr zu bringen und wird es niemals sein. Wir überlassen
das den Feinden. Wir überlassen das den Männern in ihren Kriegen.
Das ist nicht die Methode von Frauen. Nein, selbst vom politischen Nutzen
aus betrachtet, wäre Militanz, die die Sicherheit von Menschenleben gefährdet,
falsch. Es gibt etwas, worum Regierungen sich weit mehr sorgen als um Menschenleben,
und das ist die Sicherheit von Eigentum. Also schlagen wir den Feind, indem
wir gegen Eigentum vorgehen.
Seid militant, jede auf ihre Weise.
- Diejenigen, die ihre Militanz zum Ausdruck bringen, indem sie zum Unterhaus
gehen und sich weigern, ohne Antwort wegzugehen, wie wir es am Anfang getan
haben - tut es.
- Diejenigen unter euch, die ihre Militanz in Konfrontation mit dem Partei-Mob
zum Ausdruck bringen - wenn sie in Versammlungen Minister an ihre falschen
Grundsätze erinnern - tut es.
- Diejenigen, die ihre Militanz demonstrieren, indem sie sich unserer Anti-Regierungspolitik
bei Nebenwahlen anschliessen - tut es.
- Diejenigen unter euch, die Fenster einwerfen wollen - zerschlagt sie.
- Diejenigen, die noch weiter gehen wollen: greift das heimliche Idol Eigentum
an, sodass die Regierung begreift, dass Eigentum durch den Frauenwahlrechtskampf
in so grosse Gefahr kommt, wie einst durch die Chartisten - tut es.
Und mein letztes Wort an die Regierung ist: Ich stachele diese Versammlung
zur Rebellion auf!"
Liberale Antifeministen 1913: Frauen sind Tiere
Die WSPU hat niemals Aktionen durchgeführt, ohne
durch die Regierung dazu gezwungen und
herausgefordert zu sein. Noch im Jahre 1913 wagt Premierminister Asquith in
einer öffentlichen Debatte zu behaupten, "dass Frauen nicht der weibliche
Teil der menschlichen Gattung sind, sondern eine unterschiedliche, minderwertige
Gattung, von Natur disqualifiziert zu wählen, wie Hasen es sind." Also
niemals Menschenrechte, niemals Bürgerinnenrechte für weibliche
Menschen, denn sie sind keine Männer, "also" keine Menschen.
Wie zur Zeit der französischen Revolution, stufen Männer auch jetzt,
120 Jahre später, nur sich selbst als Menschen ein; so wie damals setzen
sie alle Macht und Gewalt des Männer-Staates ein, um das weibliche Volk
weiterhin von Menschen- und Bürgerinnenrechten auszuschliessen.
Um diesen ältesten, grössten, politisch grundlegenden Antagonismus
geht es: zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind die WSPU-Frauen die Avantgarde
heroischer Widerstandskämpferinnen gegen sogenannt demokratische oder
liberale Diktaturen über das weibliche Volk:
"Es ist unsere grösste Aufgabe in dieser Frauenbewegung
zu demonstrieren, dass wir Menschen sind
und in jeder Phase unseres Kampfes
hämmern wir diese sehr schwere Lektion in die Köpfe der Männer,
besonders in die von Politikern," - Emmeline Pankhurst.
Aus der Tatsache, dass Frauen Teil, ja die Mehrheit der menschlichen Gattung
sind, folgt logischerweise: "Gleiche Gerechtigkeit für
Frauen
, gleiche politische Gerechtigkeit, gleiche gesetzliche Gerechtigkeit
und gleiche Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt
Wenn es gerechtfertigt
ist, für ganz einfache, gewöhnliche gleiche Gerechtigkeit zu kämpfen,
dann haben Frauen eine grössere Rechtfertigung für ihre Revolution
und Rebellion, als Männer sie jemals in der gesamten Geschichte der Menschheit
hatten," so Mrs. Pankhurst in ihrer Rede am 9. März 1914. Mehr
kann sie nicht sagen, weil sie in diesem Augenblick erneut verhaftet wird.
Allein im Jahre 1913-14 wird Emmeline Pankhurste zehnmal gefangengenommen;
jedesmal muss sie entlassen werden, weil sie durch Hunger-, Durst- und
Schlafstreiks in höchster Lebensgefahr ist..
G. B. Shaw schreibt: "Wenn Mrs. Pankhurst stirbt, dann wird die öffentliche
Meinung ihren Tod als Exekution durch die Regierung betrachten. Mr. Asquith
lässt das kalt, seiner Meinung nach bedeutet ihr Tod nicht mehr
als das Töten eines Hasen".
Es gibt tatsächlich Abgeordnete im Parlament, die auf dem Standpunkt
stehen: Lasst sie sterben - 30 bis 50 verhungerte, tote WSPU-Frauen nehmen
sie in Kauf - oder deportiert sie nach St. Helena.
Aber das erste wagt die Regierung nicht und das zweite ist voraussichtlich
nicht wirkungsvoll. Statt die langjährige Krise zu beenden, Frauen endlich
das Wahlrecht zu zuerkennen, wird in grosser Hast das Gesetz "The Prisoners
Temporary Discharge for Illhealth" (Zeitweise Entlassung von Gefangenen wegen
schlechter Gesundheit) verabschiedet. Es beinhaltet: Gefangene werden entlassen,
wenn sie in Lebensgefahr sind, aber nach einigen Tagen erneut gefangengenommen.
Diese schier mörderische Massregel wird "Kater- und- Maus"-Gesetz genannt
und verursachte grosse Empörung. Die lebensgefährlich bedrohten
Frauen tun nun alles, um wiederholte Gefangennahme unmöglich zu machen:
sie verstecken sich, verkleiden sich oder lassen sich durch Leibwächterinnen
schützen.
Der liberale Kater, 1913
Mrs. Pankhurst wird noch 1913 zu drei Jahren Straflager
verurteilt. Sie ist fortwährend in Lebensgefahr und muss auf einer Bahre
transportiert werden; dennoch nimmt sie immer noch an Frauen-Versammlungen
teil. Eine Zeitzeugin schreibt: "Mrs. Pankhurst wurde auf einer Bahre hereingetragen,
ihr Gesicht totenbleich
, ihre Augen glänzten fiebrig, ihre Hände
zitterten. Hinter aller Selbstbeherrschung und Entschlossenheit, waren die
Zeichen erlittener Qualen deutlich sichtbar." -
Bei anderer Gelegenheit schickt Mrs. Pankhurst der Frauen-Versammlung die
Botschaft:
"Die Regierung
bringt mich gerade wieder ins Gefängnis, um zu verhindern,
dass ich heute Abend zu euch spreche. Sie riskiert, mich zu töten, um
meine Stimme zum Schweigen zu bringen, aber es gibt ein Schweigen, das mehr
sagt als Worte."
So geht es weiter und weiter - bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges.
Erst als alle WSPU-Frauen bedingungslos aus den Gefängnissen entlassen
sind, beschliesst die Organisation, ihre militanten Aktionen - vorerst - einzustellen.
Mrs. Pankhurst vertritt die Auffassung, dass Frauen jetzt ihr Land verteidigen
müssen.
1917: Gründung der Frauen-Partei
Trotzdem ruft sie, zusammen mit Christabel, Annie
Kenney und Mrs. F. Drummond die WSPU zur
Frauen-Partei aus. In ihrem Parteiprogramm haben die dringendsten Frauen-Interessen
die höchste Prioritat:
1. Gleicher Lohn und gleiche Chancen
auf dem Arbeitsmarkt und im öffentlichen Dienst;
2. Gleiche Rechte für Frauen in Ehe- und Scheidungsgesetzen;
3. gleiche Rechte und Pflichten von Müttern und Vätern gegenüber
ihren Kindern;
4. Gesetzlicher Schutz für Mädchen durch Erhöhung des Konsens-Alters;
( die gesetzliche Altersgrenze ist 16 Jahre: doch jeder Mann kann ein Mädchen
unter 16 Jahren ungestraft zum Geschlechtsverkehr überreden, nötigen,
kaufen - oder es vergewaltigen, ohne verfolgt zu werden. Gesetzgeber, Polizei
und Richter unterstellen stets, dass minderjährige, selbst ganz junge
Mädchen immer völlig frei "eingewilligen".)
5. Gesetzliche Pflicht der Gemeinden, die Grundbedürfnisse von Müttern
und Kindern in Not, auch Unterricht, Berufsausbildung und medizinische Versorgung
bis zur Volljährigkeit zu sichern;
6. Genossenschaftliche Hauswirtschaft: Schaffung der Voraussetzungen dafür
durch subventionierten Wohnungsbau, um die doppelte Arbeitslast für
Mütter mit Kindern zu erleichtern.
Die Frauenpartei vertritt den Standpunkt, dass gleiche
Pflichten für Männer und Frauen die Grundlage gleicher ökonomischer
und politischer Rechte sein müssen. WSPU-Mitglieder begrüssen die
Umformung ihrer Organisation zur Partei. Die Gründerinnen rufen alle
Frauen auf, Mitglied zu werden und mitzuarbeiten.
Doch Frauenwahlrechts-Organisationen, die meisten Anhängsel von Männerparteien,
distanzieren sich von der Frauenpartei und ihrem Programm. Sie sind seit langem
integriert oder auf dem Wege, sich in die herrschenden Männer-Parteien
integrieren zu lassen und die Interessen von Frauen und Kindern zu verraten.
Jetzt, zu einem Zeitpunkt, da das Frauenwahlrecht bald zu erwarten ist, sieht
Mrs. Pankhurst bereits die Gefahr, dass die zukünftigen Wählerinnen
ihre Stimmen an die herrschenden Männer-Parteien verschenken, also Männer-
Zwecken dienen, sich zu deren Machterhaltung, ja - Verstärkung missbrauchen
lassen..
1918: das ganze männliche Geschlecht privilegiert
1918 wird das ungleiche Frauenwahlrecht eingeführt:
alle Männer ab 21. Lebensjahr werden ohne sonstige Bedingungen wahlberechtigt;
für Frauen hingegen werden höchst diskriminierende Bedingungen gestellt:
Vollendung des 30. Lebensjahres und ein bestimmtes Einkommen. Die Mehrheit
der weiblichen Bevölkerung bleibt ausgeschlossen. Zur erstfolgenden
Wahl wird keine einzige Frau ins Parlament gewählt.
Dennoch begreifen Frauen noch immer nicht, dass sie auf dem Umweg über
Männer-Parteien, niemals die Vertretung des weiblichen Volkes im
Parlament erreichen, geschweige die Vertretung von Fraueninteressen, die gar
nicht ins Parteiprogramm der Männer aufgenommen werden.
Einige Frauen sprechen von dem Ziel, hundert Frauen-Abgeordnete ins Parlament
zu bringen. Auch nun (1988), siebzig Jahre später, kann davon gar keine
Rede sein.
Mrs. Pankhurst und ihre Anhängerinnen bleiben auch in den 1920-er Jahren
aktiv; sie ist inzwischen fast siebzig.
Das politische Klima ist jedoch äusserst reaktionär, antifeministisch
und faschistisch: Frauen auf dem Arbeitsmarkt werden von "Kriegshelden", die
meinen, "Recht" auf ihre alten Privilegien zu haben, als "überflüssig",
gar als "Bedrohnung"eingestuft. Es ist eine Phase antifeministischer Rückschläge,
vor allem auf dem Arbeitsmarkt zur Zeit der Wirtschaftskrise, eine höchst
ungünstige Zeit, um eine Frauen-Partei aufzubauen.
Zu viele Frauen nähren die politische Illusion von langsamem, aber sicherem
Fortschritt, den sie von Männer-Parteien erwarten. Die eindeutige geschichtliche
Lektion aus dem Kampf der Suffragetten-Bewegung - und aus der totalitären
Machtdemonstration der herrschenden, antifeministischen Parteien gegenüber
allen Frauen haben sie nicht begriffen.
Es ist die Konservative Partei, die endlich im Jahre 1928 das gleiche Wahlrecht
für Frauen zum Gesetz macht.
In diesem Jahr stirbt Mrs. Pankhurst.
Ihr wahrhaft heroischer Kampf mit Frauen - für alle Frauen - ist mit
der späten, widerwilligen nur formal-gesetzlichen Einräumung des
aktiven und passiven Wahlrechts noch lange nicht zu Ende: die "Demokratie"
der Väter, ihre sehr lange Geschichte der häuslichen ("privaten")
und politischen Willkürherrschaft (seit dem alten Athen und Rom) lebt
unangetastet fort, mächtiger denn je. Um das Frauenwahlrecht tatsächlich
als Machtmittel zur Verwirklichung der souveränen Vertretung (Repräsentation)
des weiblichen Volkes im Parlament einsetzen zu können, ist die eigene
politische Partei unabdingbar. Auch das haben die Führerinnen der WSPU
bereits erkannt. Der legitime, paritätische oder egalitäre Anteil
der weiblichen Bevölkerung an Gesetzgebung, Justiz und ausführender
Gewalt ist unbedingt notwendig, die Voraussetzung, um die "Hörigkeit
der Frauen ", ihre "häusliche Sklaverei" abzuschaffen und aus politischer
Machtlosigkeit zu demokratischer Teilhabe an Parlament, Regierung und allen
politischen Gewalten aufzusteigen.
Es bleibt Aufgabe dieser und zukünftiger Frauengenerationen mittels einer
unabhängigen feministischen Partei, auf der Grundlage eines feministischen
Programms, die Interesen des weiblichen Volkes zu repräsentieren und
durchzusetzen. Die herrschenden, antifeministischen Männer-Parteien (und
ihr weiblicher Anhang) haben vielfältige, allgegenwärtige
Propagandamittel, antifeministische Hetze und alte Taktiken (Teile und herrsche)
eingesetzt, um die politische Vertretung des weiblichen Volkes durch eigene
Vertreterinnen (fast) unmöglich zu machen. Die politische Theorie und
Praxis der Pankhursts und der WSPU-Frauen, beruhend auf
1. dem Prinzip der Unabhängigkeit von Männer-Parteien; woraus
folgt
2. die Organisierung von Frauen in ihrer eigenen grossen Organisation - zum
Widerstand mittels direkter Aktionen gewaltloser Militanz - als Vorphase
der Gründung einer
3. unabhängigen feministischen Partei auf der Grundlage eines eigenen
Programmes der Frauen-Interessen mit dem Zweck und Ziel, mittels Frauenwahlrecht
Vertreterinnen des weiblichen Volkes ins Parlament und an die Regierung zu
bringen, um Frauen-Interessen durchzusetzen;
diese ihre Erkenntnisse waren 1914 unerhört radikal, feministisch
revolutionär - und sind es bis heute.
Alles in Allem, aktuelle, dringende Gründe, sich Kenntnisse von
Leben und Werk dieser aussergewöhnlichen Frau, Gründerin und Führerin
der grössten feministischen Bewegung in Europa anzueignen.
*****
"All women together ought to let flowers fall
upon the tomb of those forgotten women
who paved the way..." Virginia Woolf
Alle Besucherinnen Londons sollten Blumen niederlegen am Denkmal von Emmeline
Pankhurst,
das ihr Anhängerinnen und Anhänger neben dem House of Parliament
errichtet haben.
Denkmal von Emmeline und Christabel Pankhurst, London
*****
Copyright 2008 by Hannelore Schröder, Leipzig.
Dieser Essay ist zum ersten Mal veröffentlicht in: Intellect kent geen
Sekse (Intellekt hat kein Geschlecht). Hsin. Hannelore Schröder. Kampen/Holland
1988. Eine deutsche Ausgabe erschien nicht.
Primärliteratur:
Schriften von Emmeline Pankhurst:
The Powers and Duties of Poor Law Guardians in Times of Distress. 1895
The Present Position of the Women's Suffrage Movement. In: B. Villiers, Ed.,
The Case of Women's Suffrage. London 1907.
The Importance of the Vote. 1908.
My own Story. USA/England 1914. Reprint London 1979 (VIRAGO)
Suffrage Speeches from the Dock. Made at the Conspiracy Trial, Old Baily,
May 15th- 22nd,
London 1912. (The Woman's Press)
Christabel Pankhurst: Unshackled. The Story of how We Won the Vote.
Ed. Lord Pethick-Lawrence. London 1959.
Sekundärliteratur:
Antonia Raeburn: The Militant Suffragettes. London 1973
Midge Mackenzie: Shoulder to Shoulder. Sechsteilige Fernsehserie und
A Documentary (in Buchform). New York/London 1975.
Hannelore Schröder. Hsin. Die Frau ist frei geboren. Bd. II: 1870-1918.
München 1981.
© 2006-2018 Hannelore Schröder | Sitemap | Datenschutz | | Stand: 01.06.2018