Hannelore Schröder
Das Menschenrecht der Frauen auf ihren eigenen Leib oder Leibeigenschaft?
Geschichte der Abtreibung. Von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. Robert
Schütte,
C. H. Beck 1993, 219 S. , Euro 9,90
Dieses Politikum bleibt so aktuell wie skandalös:
schon vor 100 Jahren beginnt der Widerstand von radikalen Feministinnen
- Camilla Jellinek, "
zur Reform des Strafgesetzbuches
und der Strafprozessordnung (1909) und Gisela von Streitberg: "Die Beseitigung
des keimenden Lebens. Paragraph 218 des Reichs-Strafgesetzbuches" (1910)
- gegen dieses Strafgesetz des Regimes von Thron und Altar.
Doch selbst heute, ein ganzes Jahrhundert später ist die weibliche Bevölkerung
noch immer politisch derart machtlos, dass sie ihr erstes Menschenrecht, die
Selbstverfügung über den eigenen Leib, also die Abschaffung der
Paragraphen 218 f. weder gesetzlich, noch in der Wirklichkeit durchsetzen
kann. Das sollte allen Frauen zu denken geben. -
Bereits vor 1909 sind autonome feministische Organisationen aktiv: der Bund
Deutscher Frauenvereine reicht eine Petition beim Reichtag ein, verfasst von
der brillianten Rechtsexpertin Camilla Jellinek: Abschaffung
der Zuchthausstrafe (5 Jahre!) und Straffreiheit bei drei Indikationen
sind die unerhört revolutionären Forderungen. -
Radikaler noch ist Gisela von Streitberg (Die Beseitigung keimenden Lebens
,
1910), die die Schwerstbetrafung der Frauen - aber die Straffreiheit vergewaltigender
Ehemänner, die Rechtlosigkeit lediger Mütter und ihrer Kinder, die
Behandlung der Frauen wie eine Sache - die unsägliche
Willkür des Männer-Unrechtsstaates anprangert. Dieses
Strafgesetz ist "ein unwürdiger Eingriff in die aller intimste Privatangelegenheit"
der Frauen, womit das Recht auf ihre Person, ihren eigenen Körper verweigert,
geschändet ist zugunsten "jedes unentwickelten Fötus." Sie
verlangt Straffreiheit für Frauen in den ersten fünf Monaten, und
damit Selbstverfügung, den Schutz ihrer intimsten Privatsphäre.
Auch der Bund für Mutterschutz, Dr. Helen Stöcker, ist in den zwanziger
Jahren sehr engagiert tätig.
Aber von dieser Geschichte 1900-1933 (und 1970-1993) ist in dem hier
besprochenen Band fast nichts zu finden: der Herausgeber, drei Frauen
und vier privilegierte Männer sind dafür verantwortlich.
Wo die gesetzgebenden Parteien mit "Beispielen aus der Geschichte Politik"
machen, "ist die Gefahr der Geschichtsklitterung nicht weit", so der Herausgeber,
deshalb sind Kenntnisse der Geschichte relevant. Aber wessen Geschichte ?
- Die der weiblichen Bevölkerung, ihrer Leiden, ihres Widerstands, ihrer
Wortführerinnen liegt ausserhalb des Horizonts der Kirchen- und Partei-Männer,
die mit Frauen wie mit Objekten, ihren Leibeigenen umspringen. Schon der Agrar-Jargon
"Keime", "Leibesfrucht" udgl. erniedrigt weibliche Menschen zu Acker, Pflanzen
oder Tieren, beraubt sie ihrer Menschenwürde!
Es ist nicht zufällig, dass heutige Wissenschaftler noch immer diese
weibliche Menschen entwürdigenden Termini gebrauchen als wären sie
bei biblischen Patriarchen, Kirchenvätern, Aristoteles usf. stehen
geblieben.
R. Jütte, Medizin-Historiker, behandelt Bevölkerungspolitik,
Abtreibung und Gesetze im extrem patrokratischen Griechenland und Rom, fälschlich
"Hochkulturen" genannt .
Der Strafrechtler und Rechtshistoriker Jerouschek behandelt das Mittelalter,
antikes Erbe, "weltliche" und kanonische Gesetze: "Recht" ist das nicht, sondern
grausames Unrecht an Frauen. - Angesichts der griechisch-römischen und
jüdisch-christlichen bodenlosen Mütterverachtung und -entrechtung
gibt es in den germanischen Stammesrechten noch Zeichen "vergleichsweiser
Höherbewertung " von Frauen, Schwangeren und weiblichen Föten, der
in hohem Bussgeld für die Mörder zum Ausdruck kommt. "Woher diese
Höherbewertung des weiblichen Geschlechts
rührt und ob sich
dahinter womöglich noch Reste matriarchalischer Wertvorstellungen verbergen,
ist ungeklärt". Für blinde Wissenschaftler und megalomane Patrokraten:
matriarchale Gesellschaften beruhen auf der offensichtlichen Wahrheit, dass
die junges Menschenleben kreierenden Mütter von ungleich grösserer
Bedeutung für den Bestand eines Volkes sind als die Nicht-Gebärer,
die nur Sperma abgeben.
Magistra Stukenbrock bearbeitet Aufklärung, Kindsmord, Abtreibung und
medizinische Policey, überschätzt jedoch entschieden die sogenannte
"Humanität" der führenden Ideologen, die Frauen durchaus nicht als
Teil der Menschheit begreifen.
E. Seidler, Medizin-Historiker, schreibt zur Vorgeschichte der Paragraphen
218 im 19. Jahrhundert unbedingt Wissenswertes - jedoch kritisch zu lesen.
Christiane Dienel behandelt die Jahre 1900-1930; sie ist eine gläubige,
mitunter zynische Vulgärmarxistin. Verzweifelte Frauen, die 150 RM aufbringen,
um eine Abtreibung durch einen Arzt zu bezahlen, rechnet sie zum Bürgertum,
andere, die das nicht schaffen, sind Proletarierfrauen. Also weiter "Klassenparagraph"-
Propaganda. - Sie spricht von der "meistens banale(n) Realität einer
Operation". Banal? - Lebensgefähr und viele Tote!
Das Buch endet mit einem überlangen Text betreffend die Jahre 1927-1976
von Michael Gante (*1961), einem katholischen Antifeministen. Den erneuten
Frauen-Widerstand, die Anti- 218-Kampagne 1971 im STERN, diffamiert er als
"grösstenteils linksextrem", organisiert von "Emanzipationsgruppen"
(Neofeministinnen, die mit den Klassenkämpfern nichts gemein haben!)
- Gante, rechtsextrem, verteidigt den Aberglauben, "dass das Menschenleben
(!) mit der Befruchtung beginnt". Embryologische Tatsache ist jedoch, dass
es sich lediglich um unsichtbares Zellenleben von einem Zehntel Millimeter
! handelt, das nur unter dem Mikroskop zu sehen ist. Menschenleben beginnt
mit der Geburt! - eines Menschen! Doch Gante verteidigt den "fundamentalen
Wert" katholischer Kirchenfürsten. Gegen solche ewiggestrigen Dogmen
- ist kein Kraut der Vernunft und Wissenschaft gewachsen. - Und von verfassungsmässigen
Grundrechten weiblicher Menschen - seit 1919 ! - hat er
nicht die geringste Ahnung.
Es ist skandalös, dass hier auch nicht eine feministische Wissenschaftlerin
zu Wort kommt!
PS.: Mit einer Frau der Redaktion VIRGINIA hatte ich 2003 diese Rezension abgesprochen; doch die Redaktion lehnte den Abdruck mit fadenscheinigen "Begründungen" ab.
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