Menschenrechte weiblicher Menschen: feministische Theorie und Realutopie
Neue Publikationen (seit 2000)
Hannelore Schröder:
Zum 200. Geburtstag von Harriet Taylor Mill
8. Oktober 1807 - 3. November 1858
Mitautorin von "On the Subjection
of Woman", London 1869
Anlässlich ihres 200. Geburtstages ist es mir ein
feministisches Anliegen, an diese sehr unglückliche, doch überaus
mutige, scharfsinnige Denkerin zu erinnern.
1970 habe ich in Londoner Buchhandlungen lange nach einer englischen Ausgabe
gesucht bis ich endlich ein staubiges Exemplar von "On the Subjection of Woman",
zusammen mit Mary Wollstonecraft, "A Vindication of the Rights of Woman" in
einer Ausgabe von Everyman's Library aus dem Jahre 1965 fand. Diese feministisch-politischen
Schriften gehören in Everywoman's Library, in die Bibliothek jederfrau,
hier und heute! -
Jo Ellen Jacobs, die Herausgeberin der "Complete Works of Harriet Taylor Mill"
(1998) hat mit "The Voice of Harriet Taylor Mill" (Bloomington, 2002) eine
ausführliche Biographie dieser radikal-feministischen Denkerin vorgelegt,
die zu Lebzeiten - und bis in die Gegenwart - von antifeministischen Mill-Forschern
und -Herausgebern in bösartiger Weise diffamiert wird. -
Das Grab von Harriet Taylor Mill auf dem Friedhof in Avignon ist erhalten;
das Hotel d'Europe, wo sie starb, besteht noch. Frankreich-Besucherinnen sollten
dort innehalten: "All women together ought to let flowers fall upon the tomb
of those forgotten women who paved the way." (Virginia Woolf)
*****
Es folgen Auszüge aus meiner Einleitung, die 1976 erstmals und 1991 erneut
als Nachwort (S. 167-208) publiziert wurde in:
John Stuart Mill, Harriet Taylor Mill, Helen Taylor "Die Hörigkeit der
Frau".
Herausgeben von Ulrike Helmer, erschienen in der edition klassikerinnen studia
ihres Verlages, Frankfurt 1991. S. 208. Euro 17, 50. Erhältlich im Buchhandel.
*****
Bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Geschichte und Theorie der
Frauenbewegungen wie auch bei Diskussionen in politischen Frauengrupen zeigt
sich immer wieder die Schwierigkeit, an Quellen zur Frauenfrage aus früheren
Epochen, ja selbst aus dem 19. Jahrhundert heranzukommen. Mit der vor-liegenden
Edition soll ein für die politische Theorie und Geschichte der Frauenbewegungen
gleicher-massen relevanter Text erneut greifbar gemacht werden und zu kritischer
Forschung anregen.
Diese macht den klassischen Essay zugänglich, der noch im Erscheinungsjahr
1869 von Jenny Hirsch (Mitglied des ADF) übersetzt und in den folgenden
Jahrzehnten lebhaft diskutiert, dann aber in Deutschland 85 Jahre lang nicht
mehr aufgelegt worden war. Erst im Jahr 1976 erschien er wieder in der von
mir herausgegebenen Sammlung "Die Hörigkeit der Frau und andere Schriften
zur Frauen-emanzipation" (Frankfurt/M., Syndikat).
damals wurden auch
zwei frühe "Essays über Ehe und Scheidung", geschrieben jeweils
von John S. Mill und Harriet Taylor, der frühe Essay von Harriet Taylor
"Über Frauenemanzipation" und fünf Briefe zur Frauenfrage von Helen
Taylor abgedruckt. Leider können diese Texte nicht in diese Ausgabe (1991)
aufgenommen werden.
Mein Nachwort wurde 1976 als Einleitung zu dieser Textsammlung publiziert.
Für die Neuausgabe habe ich nur unbedeutende Korrekturen und einzelne
Aktualisierungen
vorgenommen.
Aus dem NACHWORT
Auch nach mehr als 120 Jahren hat der Essay "Über die Hörigkeit
der Frau" an Interesse und Aktualität nichts verloren - schon deshalb
nicht, weil wir mit dieser Argumentation als Massstab ermessen können,
ob und wenn ja, welche Fortschritte in der politischen Theorie seither gemacht
worden sind.
Kate Millett hat 1969 in ihrer Dissertation "Sexus und Herrschaft" (1) Mills
rationale Argumentation in einem Vergleich mit dem irrationalen, reaktionären
und "ritterlichen" Ruskin gewürdigt und die Aktualität seiner Kritik
an der Natur-Ideologie der patriarchalen Gesellschaft aufgezeigt, die als
ewige Natur des Weiblichen deklariert, was doch nur die gesellschaftlich-deformierte,
zweite Natur der Frauen ist.
Aufgrund des gesunden Menschenverstandes, und indem ich (Mill) die Beschaffenheit
des menschlichen Geistes in Betracht ziehe, leugne ich, dass irgend jemand
die Natur der beiden Geschlechter kennen kann, solange dieselben in ihren
jetzigen Beziehungen zueinander verharren
Was man aber jetzt die Natur
der Frauen nennt, ist etwas durch und durch künstlich Erzeugtes - das
Ergennis erzwungener Niederhaltung nach der einen, unnatürlicher Anreizung
nach der anderen Richtung. Bei keiner anderen Klasse von Abhängigen,
das darf man dreist behaupten, ist der Charakter der Unterdrückten durch
die Beziehungen zu ihren Gebietern so gänzlich seiner ursprünglichen
Anlage entfremdet worden, wie dies bei den Frauen der Fall ist
Bei den
Frauen begnügte man sich nicht, unbequeme Eigenschaften zu zertreten,
sondern man pflegte und zeitigte durch eine Treibhaus-Erziehung und künstliche
Brutstätte diejenigen Seiten ihrer Natur, welche dem Wohlbehagen und
Vergnügen ihrer Herren dienen sollten.
Der Verklärung der bestehenden patriarchalen Zustände durch Ruskin
und andere Ideologen, denen ihr Dogma von "der Natur" der Frauen zur Aufrechterhaltung
von deren Unterdrückung dient, setzt Mill also die historische Realität
entgegen: das sogenannte Ewig-Weibliche ist ein soziales und kein natürliches
Faktum. Über die platte Negation dieser Wahrheit ist die Reaktion bis
in die Gegenwart nicht hinaus-gekommen. - Dass Mill schon vor mehr als hundert
Jahren zu dieser, für damalige Zeit ausserordentlich radikalen Kritik
fähig war, hat sicher einen wesentlichen Grund in der bisher kaum beachteten
Tatsache, dass seine Frau Harriet Taylor und deren Tochter Helen Taylor entscheidend
am Zustandekommen dieser Abhandlung beteiligt waren und dass sie das Produkt
fast vierzigjähriger gemeinsamer Diskussion und Reflexion der Frauenfrage
ist. "Die Hörigkeit der Frau" war zweifellos der seinerzeit aufsehen-erregendste,
weltweit berühmt gewordene (und auch heute bekannteste), aber er war
nicht der erste Text aus der Produktion der Taylor Mills, sondern der letzte,
die Summe gemeinsamer Erfahrungen und Erkenntnisse. John S. Mill und Harriet
Taylor hatten schon als junge Menschen bald nach 1830 ihre Reflexionen "Über
Ehe und Scheidung" in zwei kleinen Essays niedergeschrieben, die jedoch erst
1951 durch F. A. Hayek im englischen Sprachraum veröffentlicht wurden.
Der Text "Über Frauen-emanzipation" entstand vor dem Jahre 1851, indem
er zum ersten Mal und anonym erschien und Mill zugeschrieben wurde. Es steht
inzwischen zweifelsfrei fest, dass es die Arbeit Harriet Taylors ist, geschrieben
vor ihrer Heirat mit Mill. Er erregte zu jener Zeit grosses Aufsehen, wurde
mehrfach nachgedruckt, von S. Freud übersetzt und in die deutsche Ausgabe
der Gesammelten Werke Mills unter seinem Namen aufgenommen. Dort ist er verschüttet.
Verschüttet sind auch die Briefe Helen Taylors, von denen nur wenige
gesammelt und gedruckt worden sind, obwohl sie nicht nur im Leben des alten
Mill und beim Zustandekommen seiner späten Schriften eine grosse Rolle
gespielt haben, sondern auch in der englischen Frauenbewegung Mitte des vorigen
Jahrhunderts. Einige ihrer Briefe fand ich durch Zufall in einer zweibändigen
Ausgabe Millscher Briefe aus dem Jahre 1910. (2) Erst wenn ihre umfangreiche
Korrespondenz, teilweise zusammen mit Mill oder für ihn geführt,
gesammelt und unter ihrem Namen veröffentlicht ist, werden Skeptiker
bereit sein zu akzeptieren, dass sie auch einige Passagen für die "Hörigkeit
der Frau" geschrieben hat. Es ist die Aufgabe zukünftiger Forschung,
die Verdienste von Helen Taylor als Mitarbeiterin des alten Mill (und Nachlassverwalterin)
und als brillanter Persönlichkeit der englischen Frauenbewegung herauszuarbeiten.
Es sollte die selbstverständliche Plicht einer jeden Herausgeberschaft
sein, die Wünsche der veröffentlichten Autorinnen und Autoren zum
wichtigsten Prinzip ihrer Arbeit zu machen, ohne den eigenen Ressentiments
und Vorurteilen Raum zu geben. Männliche Herausgeber der Millschen und
Taylorschen Schriften haben aber das letztere getan und Mills Willen missachtet,
den er deutlich genug zum Ausdruck gebracht hatte:
Wer immer, jetzt oder nach meinem Tode, an mich und mein Werk denkt, darf
nie vergessen, dass es das Produkt nicht eines (!) Intellekts und Gewissens
ist, sondern das von dreien. (3)
Es ist daher nicht allein legitim, sondern bedeutet die Wiederherstellung
der historischen Wahrheit, wenn in neuen Ausgaben der Schriften zur Frauenemanzipation
endlich die Namen der Frauen als Autorinnen und Mitautorinnen eingesetzt werden.
Eine gemeinsame Arbeit mit meiner Frau; hieran bin ich hauptsächlich
als Sekretär meiner Frau beteiligt, sind ab 1848 wiederkehrende Wendungen
Mills im Verzeichnis seiner Veröffentlichungen.
Gemeinsam schreiben sie Zeitungsartikel, z. B. über das Problem der Vormundschaft
über die Kinder. Nach dem damaligen englischen Gesetz hatte eine Mutter
keinerlei Recht auf ihre Kinder, sie waren das Privateigentum der Väter,
die allein über sie verfügen konnten. Eine ganze Reihe von Artikeln
sind Proteste gegen die Misshandlung von Frauen und Kindern durch Ehemänner
und Väter, aber auch am Lohnarbeitsplatz, mit dem Ziel, die Notwendigkeit
eines Reformgesetzes zum Schutze vor derartigen Grausamkeiten, das in jenen
Jahren im Parlament behandelt wurde, zu unterstreichen. Aktuelle Anlässe
gab es mehr als genug: der Selbstmord einer Mutter, der Mord an einer Ehefrau,
Morddrohungen etc.. Harriet Taylor ist die Autorin einer Schrift, die als
Privatdruck kursierte: "Anmerkungen zu Mr. Fitzroys Gesetzesvorlage betreffend
die effektivere Verhinderung von Angriffen auf Frauen und Kinder." -
In einem öffentlichen Brief an die MORNING POST (1854) protestiert Mill
dagegen, dass ein Ehemann, verhaftet wegen Misshandlung seiner Frau, bereits
nach einer Woche entlassen wurde, obwohl er drohte, seiner Frau die Kehle
durchzuschneiden. Die Frau war von dem Richter gewarnt worden, ihren Mann
nicht zu provozieren. Mill fragt, ob das im Sinne der Bestrebungen des Gesetzgebers
sei, Ehefrauen und Kinder besser zu schützen. - Diese Artikel zur Gewalt
gegen Frauen sind heute noch aktuell und von mehr als nur historischem Interesse
.
Zu den noch unbekannten Schriften gehören mindestens vier Reden Mills,
eine Unterhaus-Rede aus dem Jahre 1867 (6), mit ziemlicher Sicherheit die
erste Rede überhaupt, die auf Parlamentsebene zugunsten des Frauenwahlrechts
gehalten wurde, und drei Reden, die er in den letzten Jahren seines Lebens
in Frauenwahlrechts-Versammlugen gehalten hat. Anscheinend auch in England
nicht nachgedruckt und in Deutschland noch nie veröffentlicht wurde ein
Plädoyer von Helen Taylor, "Der Anspruch der englischen Frauen auf das
Wahlrecht, verfassungsrechtlich betrachtet", aus dem Jahre 1866. Schliesslich
gibt es wahrscheinlich einige tausend Briefe von Mill, Harriet Taylor Mill
und Helen Taylor zur Frauenfrage in allen ihren Aspekten
.
Zur Genese und Autorschaft der Schriften
Die Entstehungsbedingungen der Millschen Werke, der Anteil von Harriet Taylor
und später ihrer Tochter Helen, das Ausmass ihrer Kooperation können
nur verdeutlicht werden in einer kurzen biographischen Skizze; sie stützt
sich auf Mills Selbstbiographie und Briefe aller Beteiligten. -
John S. Mill (1806-1873) erhielt eine äusserst strenge Erziehung und
Ausbildung durch seinen Vater James Mill, Freund des Utilitaristen Jeremy
Bentham,
angestellt im India House, dem Sitz der East India Company.
Bereits mit drei Jahren musste der Knabe Griechisch, mit acht Latein lernen,
war es doch das Ziel des ehrgeizigen Vaters, durch frühen und strikten
geistigen Drill einen Nachfolger für die eigene politische Richtung zu
züchten.
Mein Vater verlangte in seinem Unterricht nicht nur das Äusserste dessen,
was ich leisten, sondern auch vieles, das ich unter gar keinen Umständen
leisten konnte. (7)
Das Familienleben war nicht allein für die zahlreichen Kinder schwer
erträglich, sondern auch für ihre Mutter. So schreibt Mills Schwester
Harriet:
Das Eheleben meiner armen Mutter muss von Anfang bis Ende schrecklich hart
gewesen sein
Es war das Beispiel zweier Menschen, Ehemann und Frau, die
unter dem gleichen Dach soweit entfernt voneinander lebten wie der Nord- vom
Südpol; sicherlich nicht durch die 'Schuld' meiner armen Mutter, denn
wie konnte eine Frau mit einer wachsenden Familie und sehr geringen finanziellen
Mitteln
irgend etwas anderes sein als eine 'deutsche Hausfrau'
.
Eiserne Disziplin, Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit gegenüber
seinen Kindern und die Unterdrückung jeglicher Gefühle kennzeichnen
die väterliche Erziehung:
So wuchs ich auf im Mangel an Liebe und in ständiger Angst, schrieb Mill
in einem frühen Entwurf seiner Biographie. (10) Diese Erziehung hatte
jedoch auch positive Seiten; sie war strikt atheistisch und erzog zu logischer
Argumentation:
Verglichen mit meinen Zeitgenossen begann ich mit einem Vorsprung von einem
Vierteljahrhundert. -
Die erste intellektuelle Operation, in welcher ich es zu Fertigkeit brachte,
war das Auseinandernehmen eines schlechten Arguments und das Auffinden des
Teils, in welchem der Irrtum lag. (11)
der Siebzehnjährige wird Schreiber im India House, wo sein Vater
auch sein Vorgesetzter ist, und Mitglied der Utilitarian Society, die ebenfalls
von seinem Vater geleitet wird
Als James Mill seinen "Essay on Government"
veröffentlicht, in welchem er alle Frauen vom Wahlrecht ausgeschlossen
wissen will, protestiert John S. Mill mit seinen jungen Freunden wahrscheinlich
zum ersten Mal im Interesse der Frauen und gegen seinen Vater. (12) Sein Argument
lautet:
dass die Interessen der Frauen genau in dem Masse in die der Männer
wie die Interessen der Untertanen in die der Könige eingeschlossen sind,
und dass jeder Grund, der dafür spricht, irgend welchen Männern
das Wahlrecht zuzugestehen, verlangt, dass es den Frauen nicht vorenthalten
wird. (13)
Im Jahre 1830 begann, was Mill "die wertvollste Freundschaft meines Lebens"
nennt, die Beziehung zu Harriet Taylor, die trotz grösster Schwierigkeiten
über zwanzig Jahre währte, schliesslich zu einer späten Ehe
führte, die ihr Tod nach sieben Jahren beendete. Harriet Taylor, zum
Zeitpunkt ihrer Bekanntschaft 23 Jahre alt, war mit 18 auf Wunsch ihres harten
und tyrannischen Vaters an den Kaufmann John Taylor verheiratet worden und
hatte 1830 bereits zwei Söhne; im folgenden Jahr wird die Tochter Helen
geboren. Als junges Mädchen ohne Zugang zu jeglicher Ausbildung, besass
sie an Kenntnissen und Fähigkeiten nur, was sie sich im Selbststudium
erarbeiten konnte
.Die Ehe war ihr verhasst:
in dem gegenwärtigen System von Gewohnheiten und Meinungen treten
Mädchen in das, was man einen Vertrag nennt, vollkommen unwissend über
seine Bedingungen ein, und dass sie unwissend sind, wird als unerlässlich
für ihre Eignung betrachtet. (14)
Mill rühmt ihre tiefen und starken Gefühle, ihre durchdringende
und praktische Intelligenz und die vollständige Emanzipation von jeder
Art von Aberglauben;
ihre Beredsamkeit hätte sie sicher zu einer
grosen Rednerin gemacht, und ihre profunden Kenntnisse der menschlichen Natur,
ihr Scharfsinn und ihre Klugheit im praktischen Leben hätten sie in Zeiten,
da Frauen eine solche Karriere offenstand, unter den Regierenden der Menschheit
hervorragen lassen
Ein leidenschaftliches Gerechtigkeitsgefühl
kann als ihr stärkster Charakterzug betrachtet werden
Grosszügigkeit,
Bescheidenheit und Stolz und der äusserste Zorn über alles Gemeine
und Feige sowie eine glühende Empörung über alles Tyrannische,
Treulose und Unehrenhafte in Verhalten und Charakter
(16)
Es beginnt eine enge freundschaftliche Zusammenarbeit, die für beide
aussergewöhnlich gewinnbringend ist. Was ich ihr, auch nur intellektuell,
schulde, ist im einzelnen fast grenzenlos, schreibt Mill über sie.
In den dreissiger Jahren schrieb er für die LONDON AND WESTMINTER REVIEW
kleinere Beiträge, auch politisch noch unter der Vormundschaft seines
Vaters, der 1836 starb. Mill konnte sich danach persönlich und politisch
freier entfalten
Seit 1837 erarbeitete er sein " System of Logic", setzte
sich mit Compte auseinander, mit dem er in einen längeren Briefechsel
trat, dessen System des Despotismus in Staat und Familie jedoch zur völligen
Entfremdung beider und zur Aufgabe der Korrespondenz führte.
Sein enges freundschaftliches Verhältnis mit Harriet Taylor hatte
einerseits zu bösartigem Klatsch und zu gesellschaftlicher Isolierung,
andererseits zu immer engerer und ausschliesslicher Zusammenarbeit mit ihr
geführt. Seit er in den Freundeskreis um Harriet Taylor eingeführt
worden war, eine 'unkonventionelle und entschieden feministische Gruppe' (16)
junger Frauen und Männer,
hatte sein Denken eine neue Richtung
genommen. Harriet Taylors Anschauungen waren gekennzeichnet von einer
'gewaltigen Revolte gegen die gesellschaftlichen Konventionen, die sie
in
lebenslängliche Anhängigkeit von einem Mann gebracht hatten, einen
Mann, den sie sich an Intellekt und allgemeiner Kultur unterlegen wusste,
(und) von fast allen jenen Aktivitäten, für die sie sich begabt
erachtete, ausgeschlossen hatten.' (17)
Die Lebensbedingungen der Frauen, ihre Bildung und ihre Situation in der Ehe
waren daher schon früh ihr Hauptinteresse, der Ausgangspunkt für
alle übrigen sozialen und politischen Reflexionen und für ihre Revolte
gegen die Tyrannei der öffentlichen Meinung. Ein Zeitgenosse, Hagberg,
ist überzeugt,
'
dass es diese Frau war, die ihn (Mill) zu einem radikalen Rationalisten
machte. Sie hat allen seinen Werken den Stempel ihrer Persönlichkeit
aufgedrückt: all ihren Auffassungen hat Mill die Form philosophischer
Maximen gegeben.' (18)
Ihre "Frühen Essays über Ehe und Scheidung" sind zweifellos entstanden
aus der Reflexion ihrer ausweglosen Situation und eigenen schmerzlichen Erfahrungen.
Es gab noch keine Ehescheidung.
Ein Verhältnis zwischen einer Frau und einem Mann als ein Verhältnis
von Gleichen und auf der Basis gemeinsamer geistiger und politischer Arbeit,
war eine noch grössere Provokation und noch 'unsittlicher'
als Ehebruch. Mills unverbrüchliche Solidarität mit Harriet Taylor
und seine vielfachen öffentlichen Hinweise auf ihre Intelligenz und ihre
Bedeutung für die gemeinsame Arbeit war den Zeitgenossen generell und
selbst Freunden - aber auch späteren Mill-Forschern - ein Ärgernis:
sie versuchten beide, vor allem jedoch Harriet Taylor, lächerlich zu
machen, herabzusetzen und moralisch zu ächten.
Mill erleidet um
das dreissigste Lebensjahr einen so schweren psychischen und physischen Zusammenbruch,
dass man um sein Leben fürchtet. Harriet Taylor, ohnehin von schwacher
Gesundheit, flieht, gejagt von Krankheit und Klatsch, von Ort zu Ort, zeitweise
nach Frankreich
. Die Liebe von zwei Gleichen (Harriet Taylor) wird nicht
toleriert. Aus Angst, dass ein Brief in unbefugte Hände geraten und dem
Skandal noch mehr Nahrung geben könnte, lässt Harriet Taylor ihre
Briefe an Mill vernichten; nur ganz wenige sind deshalb erhalten geblieben.
Ein grosser Verlust.
Die "Prinzipien der politischen Ökonomie" (1848) sind das erste grössere
Werk, das Mill später als "gemeinsame Produktion" bezeichnet. Es enthält
umfassende Erörterungen der Arbeitssituation der Frauen im Lohnverhältnis
und in der patriarchalen Familie, unter anderem bereits eine Diskussion der
Ursachen des niedrigen Lohnes für Frauenarbeit. Die Teile, in welchen
die soziale und ökonomische Situation der Frauen abgehandelt wird, sind
sicher von Harriet Taylor entscheidend mitgetragen, denn das ist für
sie
die Sache, der ich viele Jahre meines Lebens und viele Bemühungen
gewidmet habe: Gerechtigkeit für die Frauen. Der Fortschritt der Gattung
wartet auf die Emanzipation der Frauen aus ihrer gegenwärtigen erniedrigenden
sklavischen Anhängigkeit von dem Zwang zur Ehe oder von Möglichkeiten,
ihren Lebensunterhalt zu verdienen, die
einzig aus armselig bezahlten
und mühseligen Beschäftigungen bestehen, da alle Berufe, juristische,
medizinische, kaufmännische und Tätigkeiten in Büros, ebenso
wie alle Regierungsposten von Männern monopolisiert sind. Allein politische
Gleichheit würde die Frauen in dieser Hinsicht auf eine Ebene mit Männern
stellen
Die grossen praktischen Fähigkeiten der Frauen, die jetzt
an wertlose Kleinigkeiten verschwendet oder von den Torheiten, die man Liebe
nennt, aufgesogen werden, würden ihre höchst produktive Wirkung
im Geschäft des Lebens beweisen
.(19)
Wie an der Erstfassung, so hatte Harriet Taylor an den späteren, erweiterten
und verbesserten Auflagen der " Politischen Ökonomie" entscheidenden
Anteil, was aus Briefen eindeutig hervorgeht. Dennoch bezweifeln Mill-Forscher
bösartig, dass das tatsächlich in nennenswertem Umfang der Fall
war. Damit bezweifeln sie notwendigerweise auch Mills eigene Urteilskraft.
Schon in den vorangegangenen Jahren hatten Taylor und Mill oft gemeinsam Zeitungsartikel
geschrieben, die teils unter Mills Namen, teils anonym erschienen. Harriet
Taylor konnte nicht über ihren Namen verfügen, da sie auf ihren
Mann Rücksicht nehmen musste; der war es auch, der sich aus Angst vor
dem Gerede dagegen aussprach, dass die "Politische Ökonomie" mit einer
Widmung an seine Frau erschien. (20)
Wenn auch die späteren Auflagen und andere Schriften ohne Harriet Taylors
Namen erschienen, so nicht nur aus Rücksicht auf ihren Ehemann, sondern
auch im Hinblick auf eine antifeministische Öffentlichkeit, die nur einen
männlichen Autor ernst zu nehmen bereit war. Sogar
die Widmung war auf meinen besonderen Wunsch auf einige Exemplare für
Freunde beschränkt, zur grossen Enttäuschung, zum Bedauern und entgegen
dem Wunsch und der Meinung des Autors (Mill);
mein Grund war, dass unseren Auffassungen mehr Gewicht durch die Autorität
allein seines Namens erhalten würden. (21)
Der Briefwechsel, wiewohl nur sehr fragmentarisch erhalten, gibt Zeugnis von
ihrer anhaltenden Diskussion der Frauensituation. Mill verwirft Comtes Gedanken
dazu energisch, lobt an Fourier und den Anhängern Owens, dass sie in
der Ehefrage nicht orthodox seien, und wünscht Proudhon den Tod. In einem
Brief an Harriet Taylor (21. 2. 1849) erörtert er, was die unsinnigen
Vorurteile gegenüber Frauen' erschüttern könnte. Er meint,
unter anderem werde nichts so nötig gebraucht wie
mehr und grössere Beweise durch Beispiele dessen, was Frauen können.
Ich glaube nicht, dass irgendetwas, das man schreiben könnte, annähernd
soviel Gutes in diesem wichtigsten aller Probleme bewirken würde wie
die Beendigung deines Pamphlets oder besser, kleinen Buches, denn das sollte
es werden. Ich hoffe sehr, du fährst damit fort - beendet und veröffentlicht
werden muss es, und zwar in der nächsten Saison. (22)
Offensichtlich arbeitete Harriet Taylor 1849 schon seit einiger Zeit - häufig
unterbrochen durch schwere Krankheit - an einem Essay zur Frauenfrage; zweifellos
ist er verwertet in dem Artikel "Über
Frauenemanzipation" und in der "Hörigkeit der Frau".
welche Veränderungen könnten in der Welt bewirkt werden von
einer Frau wie du, mit den Möglichkeiten, wie sie Tausende von männlichen
Schwachköpfen haben! Für mich aber bist du und würdest es es
für jeden sein, der dich kennte, das Sinnbild des Intellekts - denn du
hast alle Fähigkeiten in gleicher Vollendung; du kannst beides, denken
und die Gedanken anderen mitteilen, entscheiden, was getan werden muss, und
es tun
(23)
Als Mill das schrieb, kannten sich die beiden bereits zwanzig Jahre lang;
es kann daher nicht als Übertreibung und Kompliment eines verliebten
Mannes, der nicht ganz ernst zu nehmen ist, abgetan werden.
1849 starb Harriet Taylors Mann. Die über zwanzigjährige Partnerschaft
des Denkens, Fühlens und Schreibens konnte zu einer Partnerschaft unserer
ganzen Existenz werden, so Mill in der Autobiographie. Beide heirateten zwar
1851, doch verzichtete Mill in einer schriftlichen Erklärung auf alle
ehelichen Vorrechte, die ihm das feudal-patriarchale Common Law gab. Da dieses
Dokument in überaus anschaulicher Weise belegt, wie politisch das angeblich
Private ist, dass bereits Harriet Taylor und John S. Mill konsequent die ideologische
Grenzziehung von Privatheit und Öffentlichkeit transzendieren, und dass
hier ein Angehöriger der 'Aristokratie des männlichen Geschlechts'
freiwillig auf seine Privilegien verzichtet, soll es an dieser Stelle wiedergegeben
werden.
Im Begriffe, falls ich so glücklich bin, ihre Zustimmung
zu erlangen, mit der einzigen Frau in den Stand der Ehe zu treten, die ich
je gekannt habe und mit der ich in diesen Stand eintreten wollte; und da der
ganze Charakter der ehelichen Beziehung gesetzlich dergestalt beschaffen ist,
dass wir beide, sie und ich, unserem Gewissen folgend, ihn völlig missbilligen,
unter anderem aus diesem Grund: dass er der einen Partei des Kontraktes gesetzliche
Macht und Kontrolle über die Person, das Eigentum und die Handlungen
der anderen Partei, unabhängig von ihren eigenen Wünschen und Willen,
verleiht; betrachte ich es als meine Pflicht, da ich kein Mittel habe, mich
auf gesetzlichem Wege dieser hassenswerten Macht zu entkleiden (was ich gewiss
tun würde, wenn eine Vereinbarung mit dieser Wirkung für mich gesetzlich
verbindlich gemacht werden könnte), schriftlich einen grundsätzlichen
Protest gegen das bestehende Eherecht, sofern es solche Macht verleiht, und
ein feierliches Versprechen niederzulegen, sie in keinem Falle und unter gar
keinen Umständen zu gebrauchen. Und für den Fall der Heirat von
Mrs. Taylor und mir erkläre ich, dass es mein Wille und meine Absicht
und die Bedingung unserer Verbindung ist, dass sie in jeder denkbaren Hinsicht
die gleiche absolute Freiheit der Handlung und der Verfügung über
sich selbst und all das, was ihr jetzt oder irgendwann gehören mag, behält,
als ob keine solche Heirat stattgefunden hätte; und ich verwerfe und
kündige uneingeschränkt jeden Anspruch, kraft einer solchen Eheschliessung
irgendwelche Rechte erlangt zu haben.
6. März 1851 J. S. Mill (24)
In den folgenden Jahren überarbeiteten beide
gemeinsam die Politische Ökonomie, die sich in ihrer Tendenz beträchtlich
zum Sozialismus entwickelte. Beide hatten fortwährend mit ihrer Krankheit
- Tuberkulose, die sie in mehreren akuten Schüben erlitten - zu kämpfen.
Um 1853 fühlen sie sich dem Tode nahe.
Wir müssen das Beste von dem, was wir zu sagen haben, beenden, und nicht
nur das, sondern es veröffentlichen, solange wir noch leben. Ich sehe
nicht, welcher Zeitgenosse und Erbe unsere Gedanken bewahren könnte oder
wer in dieser schwachen Generation, die jetzt heranwächst, auch nur fähig
wäre, deine Gedanken gründlich zu meistern und sich anzueignen,
geschweige denn, sie neu zu gebären - deshalb müssen wir sie aufschreiben
und drucken, und dann sollen sie warten, bis es wieder Denker gibt. Aber ich
bin nicht zufrieden, solange du nicht erlaubst, dass unser bestes Buch, das
jetzt entsteht, unser beider (!) Namen auf dem Titelblatt trägt. Das
sollte so sein mit allem, was ich veröffentliche, denn die bessere Hälfte
davon ist dein; das Buch aber, das unsere besten Gedanken enthält, sollte,
wenn es nur einen Namen trägt, den deinen haben. Ich wünsche, dass
jeder weiss, dass ich der Dumont bin und du der kreative Geist, der Bentham
(25)
Zu dieser Zeit beschäftigte sie vor allem der Entwurf "Über die
Freiheit", und Mill schildert die Arbeit daran wie folgt:
Die 'Freiheit' war direkter und buchstäblicher unsere gemeinsame Produktion
als irgend etwas sonst, das meinen Namen trägt, denn darin ist nicht
ein (!) Satz, der nicht von uns gemeinsam mehrmals durch-gegangen, hin- und
hergewendet und sorgfältig auf Fehler, die wir darin entdecken könnten,
sei es am Gedanken oder am Ausdruck, geprüft worden wäre. (26)
Um 1854 etwa beginnt Mill mit der Niederschrift seiner Autobiography, und
sie erwägen gemeinsam, in welcher Weise sie ihre Beziehung darstellen,
um so Mill, die Münder der Feinde hiernach zu stopfen
.
Mill hatte endlich den Dienst im India Haus quittiert, und sie wollten sich
in einer warmen Gegend auf dem Kontinent niederlassen. Auf der Reise nach
Südfrankreich starb Harriet Taylor plötzlich am 3. November 1858
in Avignon. Mill schrieb einige Tage später:
Meine Frau, die Gefährtin all meiner Gefühle, die mir alle meine
besten Gedanken eingegeben, alle meine Taten geleitet hat, ist dahin!
Es
ist zweifelhaft, ob ich jemals wieder zu irgend etwas fähig bin, öffentlich
oder privat. Die Triebfeder meines Lebens ist gesprungen. Aber ich werde ihre
Wünsche am besten erfüllen, wenn ich den Versuch nicht aufgebe,
etwas Nützliches zu tun. (29)
Einige Wochen später:
Sie ist begraben auf dem Friedhof in Avignon und mit ihr all unser irdisches
Glück. Wir haben von jetzt an kein anderes Interesse am Leben, als ihre
Wünsche zu erfüllen in allem, was wir vermögen, und immer wieder
an ihr Grab zurückzukehren. Wir haben ein kleines Haus mit Garten nahe
dem Friedhof gekauft, wohin wir im Frühjahr gehen, und beabsichtigen,
viel von unserer Zeit hier zu verbringen, bis unsere Stunde kommt, wo wir
an ihrer Seite begraben werden. (30)
Zweifellos war es für Mill, aber auch für Helen Taylor (1831-1907)
- 2007 ist ihr 100. Todestag -, die ein sehr enges Verhältnis zu ihrer
Mutter gehabt hatte, eine grosse Hilfe, dass sie sich fortan im täglichen
Leben und in der Arbeit unterstützten. Mill nennt sie meine Leidensgefährtin
und jetzt mein grösster Trost.
Er vergrub sich in Arbeit und liess schon im Februar 1859 das gemeinsame Werk
"Über die Freiheit" erscheinen, dem die bekannte Widmung vorangestellt
ist:
Dem geliebten und beweinten Andenken derjenigen, welche alles, was das beste
in meinen Schriften ist, mir eingegeben und zum Teil selbst geschaffen hat,
- der Freundin und Gattin, deren hoher Sinn für Wahrheit und Recht mein
stärkster Antrieb und deren Billigung mein bester Lohn war, widme ich
diesen
Band. Gleich allem, was ich seit vielen Jahren geschrieben habe, ist diese
Schrift ebenso sehr ihr Werk als das meine; doch hat sie nur in sehr ungenügendem
Masse den unschätzbaren Vorteil der Durchsicht von ihrer Hand genossen,
da einige der wichtigsten Abschnitte einer nochmaligen sorgsamen Prüfung
vorbehalten waren, die sie nun nimmermehr erfahren können. Vermöchte
ich es nur, einen Teil der grossen Gedanken und edlen Gefühle auszusprechen,
die jetzt in ihrem Grabe ruhen, so würde ich der Welt wahrscheinlich
einen besseren Dienst erweisen als durch alles, was ich sonst zu leisten vermag
ohne die Stütze und den Sporn ihrer fast unübertroffenen Weisheit.
(31)
1860/61 schrieb Mill zwei Abhandlungen, von denen nur die eine für die
sofortige Publikation bestimmt war, die "Betrachtungen über repräsentative
Regierung". Das Kapitel über die Ausweitung des Wahlrechts enthält
auch eine Begründung des Frauenwahlrechts. Die zweite Abhandlung war
"On the Subjection of Woman":
Sie wurde geschrieben auf Drängen meiner Tochter, damit in jedem Falle
ein schriftlicher Entwurf meiner Auffassungen zu dieser Frage, so vollständig
und überzeugend wie möglich, existiere. Es war geplant, ihn mit
anderen unveröffentlichten Manuskripten aufzubewahren, ihn von Zeit zu
Zeit, wenn ich dazu fähig wäre, zu verbessern und zu einem Zeitpunkt
zu veröffentlichen, da es voraussichtlich am nützlichsten wäre.
So wie die Abhandlung schliesslich veröffentlicht wurde, war sie mit
einigen wichtigen Passagen meiner Tochter bereichert. Was hingegen meinen
Teil betrifft, so gehört alles, was darin am eindruckvollsten und fundiertesten
ist , meiner Frau und kommt aus dem Fundus von Gedanken, den wir uns beide
gemeinsam in unseren zahllosen Gesprächen und Diskussionen über
diesen Gegenstand, der einen so grossen Raum in unserem Denken einnahm, erarbeitet
haben. (32)
Wie wichtig in diesen Jahren Helen Taylors Mitarbeit für Mill wird, beschreibt
er selbst:
Ich war nicht allein: sie (Harriet) hinterliess eine Tochter, meine Stieftochter
Helen Taylor, die viel von ihrer Weisheit und ganz und gar ihren noblen Charakter
geerbt hatte, deren wachsende und reifende Talente bis heute dem gleichen
grossen Ziel gewidmet sind und ihren Namen besser und weiter bekannt gemacht
haben als den ihrer Mutter
Gewiss ist: niemand war je zuvor so glücklich,
nach einem solchen Verlust wie dem meinen noch einmal den grossen Preis in
der Lotterie des Lebens zu ziehen - eine zweite Gefährtin, Anregerin
und Ratgeberin mit seltenen Fähigkeiten. Wer immer, sei es jetzt oder
nach meinem Tode, an mich und mein Werk denkt, darf nie vergessen, dass es
das Produkt nicht eines (!) Intellekts und Gewissens ist, sondern das von
dreien, wovon der am wenigsten bemerkenswerte, und vor allem der am wenigsten
originelle, derjenige ist, dessen Namen damit verknüpft wurde. (33)
diese Textstelle wurde, wie auch andere, auf Drängen Alexander
Bains, Utilitarist, gestrichen, weil er die Würdigung Helen Taylors -
auch die ihrer Mutter - übertrieben und für Mill schädlich
fand
.
Aus dem umfangreichen Briefwechsel geht hervor, dass Mill und Helen Taylor
die überall sich bildenden Komitees und Vereinigungen zur Durchsetzung
des Frauenwahlrechts unterstützten, berieten und anregten. Helen Taylor
gründete selbst eine "Gesellschaft für die Ausdehnung des Wahlrechts
auf Frauen".
Die Existenz der Gesellschaft geht zurück auf die Initiative meinerTochter;
diese Einrichtung war ganz von ihr geplant, und sie war, während der
ersten Jahre, die Seele der Bewegung, obwohl ihre schwache Gesundheit und
das Übermass an Arbeit sie zwangen, ihr Funktion im Executive Committee
aufzugeben. Viele hervorragende Mitglieder des Parlaments, Professoren und
andere, und einige der bekanntesten Frauen des Landes wurden Mitglied der
Gesellschaft; ein grosser Teil direkt oder indirekt durch den Einfuss meiner
Tochter, die die grösste Zahl der Briefe, und die besten, durch die die
Zustimmung erlangt wurde, geschrieben hat, auch dann, wenn diese Briefe von
mir unterschrieben waren. In zwei bemerkenswerten Fällen, dem von Miss
Nightingale und Miss Mary Carpenter, wurde das anfängliche Zögern
dieser Frauen, sich anzuschliessen - es beruhte nicht auf einer Differenz
der Meinung - überwunden durch Appelle, geschrieben von meiner Tochter,
aber unterschrieben von mir. (34)
Als Mill 1865 eine Kanditur für das Unterhaus angetragen wurde, erklärte
er vorbehaltlos seine politischen Ziele :
und da eines davon das Wahlrecht war, machte ich sie mit meiner Überzeugung
bekannt, dass Frauen zu den gleichen Bedingungen wie Männer das Recht
auf Repräsentation im Parlament haben (was ich tun musste, da ich die
Absicht hatte, im Falle meiner Wahl entsprechend zu handeln). Es war zweifellos
das erste Mal, dass dem englischen Wähler eine solche Doktrin zu Ohren
gekommen ist, und die Tatsache, dass ich gewählt wurde, obwohl ich das
vorgeschlagen hatte, gab der Bewegung zugunsten des Frauenwahlrechts, die
seitdem so stark geworden ist, einen guten Start. (35)
Ein Zeitgenosse urteilte über Mill und seine Wahlchancen: "
der
Allmächtige persönlich hätte keine Chance gehabt, mit einem
solchen Programm gewählt zu werden."
Doch Mills Offenheit und politische Redlichkeit hatten Erfolg. - Er war während
dreier Sitzungsperioden Abgeordneter des Unterhauses, zu einer Zeit, da eine
Reform Bill, eingebracht von Gladstone, verab-schiedet wurde. Diese Gesetzesvorlage
war jahrelang diskutiert worden, beinhaltete sie doch eine Wahlrechtsreform,
die einem grösseren Kreis der "Bevölkerung" das Wahlrecht bringen
sollte. Liberale und Vertreter der Arbeiter hatten für das "allgemeine
Wahlrecht" plädiert, das aber, keineswegs allgemein, nach wie vor alle
(!) Frauen ausschloss und daher von Mill als "Männlichkeits-Wahlrecht"
bezeichnet und strikt abgelehnt wurde. Das Jahr 1866 brachte jedoch eine günstige
Gelegenheit, dem Unterhaus erneut eine Petition für das Frauenwahlrecht,
unterzeichnet von 1500 Frauen, zu präsentieren. Die erste Petition in
dieser Sache war bereits 1850 vorgelegt worden. Vorbereitet war diese Petitition
gemeinsam von Helen Taylor und Mill, der es auch übernahm, sie dem Parlament
vorzulegen. Dieser politische Akt war zu jener Zeit etwas ganz und gar Aussergewöhnliches,
wie aus einem Artikel in der WESTMINSTER REVUE hervorgeht. (36)
Im darauffolgenden Jahr hielt Mill im Unterhaus eine Rede über "Die Zulassung
der Frauen zum Wahlrecht." (37) Er hat damit das historische Verdienst, als
erster in einem Parlament seine Stimme zugunsten des Frauenwahlrechts erhoben
zu haben. Dieser politisch revolutionäre Vorschlag wurde zu jener Zeit
noch von vielen als sein persönliches Steckenpferd angesehen, war aber
von grossem Wert für die Beeinflussung der öffentlichen Meinung.
besonders der starke Widerhall auf das Verlangen nach dem Wahlrecht
für Frauen, aus fast allen Teilen des Königreichs, rechtfertigte
völlig den gewählten Zeitpunkt für diese Aktivitäten und
machte das, was als moralische und soziale Pflicht unternommen worden war,
zu einem persönlichen Erfolg. (38)
Ausserdem stellte Mill einen parlamentarischen Antrag, in der Reform Bill
die Wörter zu streichen, die darauf zielen, das Wahlrecht auf Männer
zu beschränken, und damit das Wahlrecht allen Frauen zuzubilligen, die
als Haushaltsvorstände oder in anderer Hinsicht die gleichen Voraussetzungen
besitzen wie männliche Wähler. (39)
1868, nachdem das Reformgesetz verabschiedet war, wurde das Parlament aufgelöst,
"und in der neuen Wahl für Westminster wurde ich hinausgeworfen
",
so Mill.
Er war allen politischen Richtungen ein Ärgernis und galt
als "unmässig und leidenschaftlich". Er zog sich wieder ins Privatleben
zürück, teils in Avignon, teils in London. Seine Autobiographie
endet mit den Sätzen:
bei öffentlichen Anlässen habe ich eine kleine Zahl
von Reden gehalten, besonders in Versammlungen der Frauenwahlrechts-Gesellschaften,
habe "Über die Hörigkeit der Frau", geschrieben einige Jahre vorher,
mit einigen Zusätzen von meiner Tochter und mir versehen herausgeben
(40)
Diskriminierende Praktiken von Herausgebern und J. S. Mill-Forschern
Nach seinem Tod 1873 bis in die Gegenwart ( Siehe: Nachwort S. 188-195)
Mill sollte von seinem engagierten Feminismus gereinigt, die Verdienste
der zwei Frauen sollten
eliminiert werden.
Zur Geschichte der Verbreitung der Schriften über Frauenemanzipation
von Männern wurde die Verbreitung mittels unwürdiger Manipulationen
hintertrieben, von Frauen dagegen immer wieder gefördert.
1872 schrieb Jenny Hirsch in der Einleitung zur weiten Auflage ihrer Übersetzung
des Buches:
"Die Presse der ganzen gebildeten Welt hat in eingehender Weise davon Notiz
genommen, es wurde feurig gelobt, hart getadelt und verurteilt, an mehr als
einer Stelle entspann sich darüber in Wort und Schrift ein heftiger Streit."
(53)
In England erschien die Schrift, wie aus einem Brief Mills an Theodor Gomperz
(Wien) hervorgeht, im Frühjahr 1869. Sie wurde offenbar ausser in England
selbst in Amerika, Frankreich und Deutschland von Frauen aus den Frauenbewegungen
sofort gelesen und in ihrer politischen Bedeutung erkannt. Mills Briefwechsel
mit Frauen aus dem In- und Ausland beweist es, und er selbst schrieb schon
im Juni 1869, dass er mehrere Bitten um Übersetzung ins Deutsche erhalten
habe.
Noch im gleichen Jahr schrieb die Theoretikerin und Organisatorin der amerikanischen
Frauenbewegung Elizabeth Cady Stanton an Mill.
1911 ergriff wiederum
eine Frau aus der Frauenbewegung, Carrie Chapman Catt, die Initiative zu einer
Neuauflage
.
Als Max Lerner 1961 (in den USA) eine Sammlung der wichtigsten Schriften von
J. S. Mill herausgab, betrachtete er "On the Subjection of Woman" als unwichtig
und schloss die Abhandlung aus.
1970 endlich, kurz nach dem 100. Jahrestag des Erscheinens der
Originalausgabe, wurde "Die Hörigkeit der Frau" zusammen mit den "Frühen
Essays über Ehe und Scheidung" und dem Artikel "Über Frauenemanzipation"
von der feministischen Soziologin Alice S. Rossi herausgegeben und eingeleitet.
1969/70 ist auch der Zeitpunkt, zu welchem Kate Milletts Arbeit "Sexual Politics"
mit ihrer Analyse und Würdigung der "Hörigkeit der Frau" erscheint
und weltweite Verbreitung findet
. 1973 wurde der Text in eine Anthologie
feministischer Schriften aufgenommen, und eine Bibliographie aus dem Jahre
1975 verzeichnet zahlreiche Ausgaben von Harriet Taylors Essay "Über
Frauenemanzipation"
.
Mill hatte sehr bald nach Erscheinen an Professor Th. Gomperz in Wien, seinen
langjährigen Übersetzer und Herausgeber im deutschen Sprachgebiet,
den folgenden Brief geschrieben: Ich hoffe, Sie haben pünktlich ein Exemplar
des kleinen Buches The Subjection of Women, das ich gerade veröffentlicht
habe, von meinem Verleger erhalten. Es ist mehrmals die Bitte um Übersetzung
ins Deutsche an mich herangetragen worden, und
es ist sehr wünschenswert,
dass das sofort (!) geschieht. (59)
Gomperz, überzeugter Monarchist und Patriarch jüdischer Herkunft,
ist diesem Wunsch Mills niemals nachgekommen. Noch 1911 sprach er sich gegen
das Wahlrecht für Frauen und gegen ihre Zulassung zu Universitäten
aus, weil er persönlich sich durch ihre Anwesenheit gestört fühlte
(60) und weil er Frauen generell und unabänderlich für intellektuell
minderwertig hielt. Im Jahre 1869 hatte er sich gerade mit einer 16 Jahre
jüngeren Frau verlobt ("ganz mein eigen", Gomperz), hatte also aus politischen
und persönlichen Gründen nicht das geringste Interesse an der Übersetzung
und Verbreitung der "Hörigkeit der Frau". (61) Mehr noch, es handelt
sich hier um fanatische Rache an Helen Taylor: er hatte ihr einen Heiratsantrag
gemacht, jedoch eine eindeutige Abweisung erhalten, worauf er einen Nerven-zusammenbruch
erlitt und eine "viele Jahre anhaltende Verletzung seines Selbstgefühls"
(R.A. Kann) folgte.
Selbst zehn Jahre später, 1880, als die zwölfbändige deutsche
Ausgabe der Werke Mills abgeschlossen wurde, entschied sich Gomperz immer
noch gegen die Aufnahme dieser Schrift, wiewohl er im Schlusswort behauptete,
"sich nicht nur von seinem Urteil über den relativen Wert der einzelnen
Stücke, sondern desgleichen von dem Wunsche leiten (zu lassen), ein möglischst
vollständiges Gesamtbild von Mills geistiger Persönlichkeit zu liefern,
gleichwie schliesslich auch von der Rücksicht auf die mutmasslichen eigenen
Wünsche des Verfassers. Der zuletzt angeführte Grund hätte
(!) hingereicht, dem Aufsatz über Frauenemanzipation einen Platz in unserer
Sammlung zu sichern." (62)
Er nennt nicht einmal den Titel des Buches, das er zensiert!
Trotz dieser schönen Worte ignoriert Gomperz den Wunsch Mills abermals,
verfälscht das Bild seiner geistigen Persönlichkeit, indem er das
Ergebnis über vierzigjähriger Reflexion und Diskussion der Frauenfrage
aus der deutschen Ausgabe eliminiert
, und trift im Hinblick auf den
Wert dieser politischen Schrift ein in seinem Antifeminismus begründetes
historisches Fehlurteil: "eine weitere Ausführung des in dem Aufsatz
'Über Frauenemanzipation' behandelten Themas" (Gomperz) war und blieb
von seinem Standpunkt aus gesehen - überfüssig.
Noch aus einem anderen Grunde ist sein Nachwort bemerkenswert: es wird mitgeteilt,
dass an die Stelle des bisherigen Mitarbeiters "bei der Übersetzung dieses
Bandes Hr. Sigmund Freud getreten" ist. Der damals 23-jährige Freud hatte
untere anderen Texten auch den "Über Frauenemanzipation" übersetzt.
Gedruckt wurde er, ohne dass statt Mills Name der von Harriet Taylor eingesetzt
wurde, obwohl dem Herausgeber und Übersetzer bekannt sein musste, dass
sie die Autorin ist
.
Freud war also schon als junger Mann mit den Gedanken Mills zur Frauenfrage
bekannt geworden; er hatte Gomperz, bei dem er zeitweise Altphilologie studierte
"die Bekanntschaft mit Mills Philosophie zu danken"(R. A. Kann). Es war ihm
folglich bekannt, dass "die Frauenfrage" eine sozialrevolutionäre, politische
Frage war und keine biologische und medizinische; aber borniert und arrogant
amüsierte er sich sowohl über die theoretische Diskussion als auch
über die Frauen selbst, wie es Gomperz tat, von dem sein Sohn berichtet:"Gern
machte er sich über die Klage lustig, durch die lange Ausschliessung
der Frauen von gewissen Berufen seien ihre auf diese gerichteten Anlagen verkümmert
oder doch unentwickelt geblieben
". (64) Beide waren und blieben sich
einig in der Auffassung, dass der einzige Lebenszweck der geistig von Natur
aus minderwertigen Frauen das Gebären sei. Gomperz und Freud waren also
die denkbar ungeeignetsten Verwalter der Taylor-Mill-Schriften.
Zum Glück für die deutsche Frauenbewegung
hatte eine Frau aus
ihren Reihen, Jenny Hirsch, sofort die Initiative ergriffen, das Werk übersetzt
und, noch im selben Jahr 1869, veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt verkündete
Heinrich von Treitschke, Professor der Geschichte, in seinen Berliner Vorlesungen
wütenden Antifeminismus als "Wissenschaft" und wetterte "gegen die verrückte
Emazipationslehre"
1872 besorgte Jenny Hirsch die zweite Auflage der "Hörigkeit der Frau"
und versah sie mit einer "Kurzen Übersicht über den gegenwärtigen
Stand der Frauenfrage". Es vergingen fast zwanzig Jahre bis zur dritten Auflage
1891
.Seit dieser Zeit - bis 1976 - hat der Text keine Neuauflage erlebt,
nicht 1969 , auch nicht 1973 anlässlich des 100. Todestages von John
S. Mill.
In Deutschland machte ich ab 1970 mehrfach den Versuch, einen Verlag für
einen Neudruck des Buches zu interessieren. Die 1976 endlich erfolgte Neuausgabe
der "Die Hörigkeit der Frau und andere Schriften zur Frauenemanzipation"
ist inzwischen bereits wieder vergriffen, das Buch droht erneut in Vergessenheit
zu geraten: "seine Seiten sind denjenigen unbekannt geworden, die sie am besten
kennen sollten. Eine Neuausgabe ist ein glückliches Ereignes
"
(Anmerkungen zum vollständigen NACHWORT: Siehe Seite 203-208 a. o. O.)
1968 erschien ein Reprint von J. S. Mill, Gesammelte Werke, hrsg. von Theodor
Gomperz - ohne die "Hörigkeit der Frau".
J. S. Mill, Helen Taylor: Rede von John Stuart Mill, M. P. , Über die
Zulassung der Frauen zum
Wahlrecht, gehalten im House of Commons, am 20. Mai 1867. in: Die Frau ist
frei geboren. Texte zur
Frauenemanzipation. Band I : 1789 bis 1870.
Herausgegeben und kommentiert von Hannelore Schröder. München 1979
(vergriffen)
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